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Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)

Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)

Titel: Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Autoren: Martin Barkawitz
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Carl Lütkes Gesicht betrug die Distanz noch nicht einmal eine Armlänge. Es war unmöglich, ihn zu verfehlen. Und das tat die junge Frau auch nicht.
    Anna spannte den Revolverhahn, zielte und feuerte. Sie war nun so ruhig wie auf dem Schießstand. Carl jaulte auf, als die erste Kugel in sein linkes Auge schlug. Anna ließ nicht locker. Sie machte die Waffe erneut schussbereit und zog abermals den Stecher durch. Die junge Frau wiederholte den Vorgang, bis die Trommel leergeschossen war und der Mörder mit zerschmettertem Schädel neben ihr lag. Alle sechs Kugeln hatten das Ziel getroffen.
    Von Carl Lütkes Gesicht war nichts mehr zu erkennen.
    Anna begriff allmählich, dass die Gefahr vorbei war. Nun erst begannen ihre Hände zu zittern, und sie brach in Tränen aus.

 
     
     
    Epilog
     
    16. November 1892
    Die Straßenkinder liefen lachend und schreiend hinter einem Automobil her. Das seltsame Gefährt rollte quer über den Rödingsmarkt. Boysen folgte dem Wagen nur mit seinen Blicken, verharrte aber ansonsten so unbeweglich wie eine Statue. Trotz der steifen Brise war ihm nicht kalt. Unter seinem Waffenrock trug er einen dicken Wollpullover, und seine Hände steckten in Handschuhen. Außerdem hatte er sich vor einer halben Stunde verbotenerweise im Dienst einen Grog genehmigt.
    Boysen hatte einmal in der Zeitung gelesen, dass die Kutschenwagen der Firma Daimler mit einer Geschwindigkeit von 16 km/h durch die Gegend rasten. Darüber konnte er nur den Kopf schütteln. Wozu sollte das gut sein? Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich diese Erfindung durchsetzen würde.
    »Offiziant Boysen!«
    Er zuckte zusammen. Während der vergangenen Monate hatte er es geschafft, möglichst selten an Anna Dierks zu denken. Er war ihr dankbar dafür, dass sie den verdammten Mörder niedergeknallt hatte. Aber seine romantischen Gefühle für die junge Blankeneserin mussten unbedingt unterdrückt werden. Zum Glück gab es ja die dicke Stine, bei der Boysen gehörig Dampf ablassen konnte.
    »Guten Tag, Fräulein Dierks«, sagte Boysen artig. »Die korrekte Anrede lautet inzwischen übrigens Constabler. Ich bin nämlich degradiert worden.«
    »Degradiert?« Anna trug einen Pelzmantel und sah hinreißend aus. Ihr Erstaunen war offenbar echt. »Aber ... warum nur? Dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund!«
    »Oh doch, den gibt es. – Sehen Sie, Sie haben Carl Lütke in Notwehr erschossen. Daran hat die Untersuchung der Staatsanwaltschaft keinen Zweifel gelassen. Aber Theodor Lütke ist nicht dumm. Er wird herausgefunden haben, dass wir beide seinen Sohn gejagt haben. Der Reeder ist ein Machtmensch. Er konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass wir gegen seine Familie vorgegangen sind. Ihnen konnte er nichts am Zeug flicken, weil Ihr Vater zu mächtig ist. Aber ich ...«
    Boysen vollendete den Satz nicht. Anna war nun nicht mehr verblüfft, sondern regelrecht empört.
    »Wie ist so etwas möglich in unserer Stadt?«
    Boysen genehmigte sich ein müdes Lächeln. »Spielen Sie Schach, Fräulein Dierks?«
    »Gelegentlich, aber ... wie kommen Sie darauf?«
    »Beim Schach gibt es ein sogenanntes Bauernopfer, und das bin in diesem Fall ich. Dagegen kann man nichts machen, die Spielregeln sehen es vor. – Ich selbst bevorzuge übrigens nicht Schach, sondern Go.«
    »Entschuldigen Sie, Offi... Constabler Boysen, aber das ist Unsinn. Man muss gegen diese willkürliche Degradierung protestieren, man ...«
    »Wo gehobelt wird, da fallen Späne«, fiel Boysen ihr ins Wort. »Es ist freundlich von Ihnen, dass Sie mir beistehen wollen. Aber ich sage Ihnen: Lassen Sie es gut sein. Die hohen Herren sitzen immer am längeren Hebel. Natürlich bin ich nicht wegen der Sache mit Carl degradiert worden. Man hat andere Gründe gefunden. Wer suchet, der findet – so steht es schon in der Bibel, nicht wahr?«
    »Aber das ist eine himmelsschreiende Ungerechtigkeit!«, rief Anna. »Sie haben unter Einsatz Ihres Lebens einen Mörder gejagt!«
    »Ich lebe noch«, stellte Boysen trocken fest. »Und ich bin jetzt hier auf Stehwache. Das ist einer der langweiligsten Dienste beim Constabler Corps. Doch mir gefällt die Stehwache. Es ist hübsch ruhig und friedlich. Ich halte mich hier am Rödingsmarkt auf, muss nichts tun und werde dafür sogar bezahlt. – Und ich freue mich übrigens, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen.«
    Anna schlug die Augen nieder. »Ja, ich war länger nicht in Hamburg. Meine Eltern haben mich zu einer Kur in die Schweiz
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