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Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)

Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)

Titel: Der Schauermann - Historischer Thriller (German Edition)
Autoren: Martin Barkawitz
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nämlich soeben an der Seuche gestorben. Boysen musste mit ansehen, wie die Leiche in ein karbolgetränktes Leintuch gewickelt wurde. Ein Pfleger heftete einen Zettel mit dem Namen des Toten an das Bündel. Dann kamen zwei angetrunkene Leichenträger und schleppten das Seuchenopfer auf einer Bahre davon. Boysen wusste, dass die meisten Leichenträger während der Epidemie mehr oder weniger ständig berauscht waren. Alkohol galt als »desinfizierend« gegenüber dem Cholera-Erreger – doch in erster Linie mussten sie betrunken sein, um ihrer Arbeit überhaupt nachgehen zu können.
    Boysen wurde von den Pflegern ausgezogen und gewaschen. Er war völlig geschwächt, konnte nur noch apathisch vor sich hin starren. Seine Muskeln verkrampften sich immer wieder schmerzhaft. Einer der Weißkittel begann, dem Offizianten ein salziges Gebräu einzuflößen. Es schmeckte widerlich, aber Boysen hatte entsetzlichen Durst. Daher schluckte er die Flüssigkeit, obwohl sein Magen immer noch rebellierte.
    Von seinem Platz aus konnte der Offiziant unmöglich erkennen, wie viele Männer in der behelfsmäßigen Baracke lagen. Er schätzte, dass es mindestens 50 Kranke sein mussten. Boysen konnte keinen klaren Gedanken fassen. Fest stand für ihn nur, dass er nicht sterben wollte. Nie wieder auf Stines warmen weichen Körper rutschen dürfen, nie mehr die Sonne über den unzähligen Segelschiffmasten des Hafens aufgehen zu sehen – diese Vorstellung war unerträglich für ihn.
    Boysen tat das Einzige, was in seiner Lage möglich war. Er konzentrierte sich ganz darauf, die Flüssigkeit zu schlucken. Das Gebräu bestand aus sauberem Wasser, das mit viel Salz und Zucker versetzt war. Der Brechdurchfall hatte seinen Körper austrocknen lassen, was letztlich tödlich war. Durch die Flüssigkeit kehrte das Leben in seinen geschundenen Leib zurück, wenn auch nur allmählich und zögerlich.
    Boysen trank, bis er vor Erschöpfung einschlief. Irgendwann wachte er auf. Es war Nacht. Fahle Petroleumlampen beleuchteten die Cholera-Baracke. Er beobachtete, wie am anderen Ende der Unterkunft eine weitere Leiche abtransportiert wurde. Einige seiner Leidensgenossen wanden sich in Muskelkrämpfen. Das Ächzen und Stöhnen aus zahlreichen Kehlen wurde zu einer Litanei des Schmerzes. Der Offiziant glaubte zunächst, nicht wieder einschlafen zu können. Aber dann siegte doch die Erschöpfung.
    Als der Morgen eines weiteren heißen Tages über der Elbe dämmerte, waren drei weitere Männer der Cholera erlegen. Aber Boysen lebte noch, obwohl er selbst sich darüber am Meisten wunderte. Der Tag begann mit dem Trinken der gewöhnungsbedürftigen Flüssigkeit. Aber Boysen schüttete das Zeug klaglos in sich hinein, denn er wusste, dass nur dieses Gebräu sein Leben retten konnte.
    Er verlor jedes Zeitgefühl. Seine Taschenuhr war verschwunden, genau wie seine Uniform. Boysen trug nur ein fadenscheiniges weißes Gewand, das ihn an ein Leichenhemd erinnerte. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Irgendwann kam ein vollbärtiger Mann im Arztkittel an sein Feldbett.
    Boysen blinzelte. Der Doktor erinnerte mit seinen dunklen Ringen unter den Augen selbst an einen Cholerakranken. Doch der Offiziant ahnte, dass die ungesunde Gesichtsfarbe des Mediziners auf Schlafmangel zurückzuführen war. Ein Choleraarzt fand in jenen Tagen in Hamburg wenig Ruhe. Darüber machte sich Boysen keine Illusionen.
    »Ich bin Dr. Schmidtbauer«, sagte der Vollbärtige. Er setzte sich auf die Bettkante und fühlte Boysens Puls. »Und Sie sind dieser Polizist?«
    »Offiziant Boysen, stets zu Diensten«, röchelte der Patient.
    Dr. Schmidtbauer gestattete sich ein Grinsen. »Ihr Puls ist gar nicht mal so übel, wenn man bedenkt, dass Sie schon fast tot waren. Aber das wird schon wieder, jedenfalls bei Ihnen. Die Cholera ist zwar schlimm, verläuft aber nicht immer tödlich. – Wenn Sie die Tollwut hätten, könnten wir Sie überhaupt nicht retten.«
    Boysen verstand, dass der Mediziner ihn aufmuntern wollte. Trotzdem fragte er: »Warum sollte ich denn ausgerechnet die Tollwut kriegen?«
    »Möglich wäre es. Das ist nur ein Beispiel für eine Krankheit, die unausweichlich zum Tod führt«, brummte Dr. Schmidtbauer. Er schob ein Thermometer in Boysens After. »Wenn der Patient gebissen wurde, gibt es im Prinzip keine Rettung mehr. Erst kommt das Fieber, dann die Unruhe. Er wird boshaft, schlägt, tritt und beißt zu. Die Tollwut macht ihn zur Bestie. Der Patient rast tagelang herum,
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