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Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser
Autoren: Inger Frimansson
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wahrgenommen, als es eines Morgens mit gebrochenem Bein auf der Weide stand. Auch bei Justine hatte sie ihn gesehen, damals, als sie klein waren und Berit und sie Justine auf dem Friedhof in Hässelby zwangen, in die Wassertonne zu steigen. Du bist ein Fisch, Justine, was frisst du? Was fressen Fische? Würmer. Jetzt sah sie ihn bei der Frau in dem leeren Korridor. Vage spürte sie, dass Tor ihren Arm fasste. »Wir gehen, da muss ein Missverständnis vorliegen.« Sie hob den Fuß, um sich in Bewegung zu setzen, die Starre zu überwinden. Im selben Augenblick öffnete die Frau den Mund zu einem Schrei. Doch es kam kein Schrei, nur ein schwaches Röcheln, sie blickten geradewegs in ihren Rachen, sahen die Zunge und die kurzen Zähne. Und dann die Augen, wie kleine weiße Flammen.
     
    Als sie wieder im Auto saßen, bemerkten sie das Schild, das sie vorher übersehen hatten. Staatliches Asylbewerberheim.
    »Wie zum Teufel kann man Leute aus fernen Ländern nur hier oben in den Norden verfrachten! Kein Wunder, dass sie so sonderbar sind.« Tor startete den Motor, seine Hand am Schlüssel zitterte. Jill zitterte auch, am ganzen Leib. Eine quälende Unruhe ergriff langsam von ihr Besitz und dämpfte all ihre Fröhlichkeit und Vorfreude.

ER STELLTE DAS AUTO immer in einer der Nebenstraßen im Villenviertel ab und ging dann zu Fuß. Eigentlich wusste er nicht genau, was er wollte. Vielleicht sie einfach nur sehen. Vielleicht reichte das schon.
    Es war so eintönig und still hier im Vorort mit all seinen blinden Hausfassaden. Immerhin dauerte der Sommer noch an, und doch rührte sich kein Mensch zwischen den Bäumen, keine Stimmen, kein Lachen. Sollten sie nicht eigentlich fröhlich sein, die Menschen, die in diesen protzigen Villen wohnten? Und Luxuskarossen besaßen. Im Gegensatz zu seiner alten Rostlaube. Nathan, sein Vater, hatte diese Leute verachtet.
    »Bist du jemals an einem Sonntagnachmittag in einem schwedischen Dorf gewesen? Totenstille, wie auf dem Friedhof. Man fragt sich, wo denn eigentlich die Menschen sind. Tja, sie sitzen in ihren Bunkern und glotzen in die Mattscheibe, oder was auch immer. So werden wir niemals, Micke, versprich mir das. Niemals wie sie zu werden.«
    Er war so stark und wahrhaftig gewesen. Es gab keine Zeichen des Todes in diesem Körper.
    »Ich werde dich mitnehmen und dir den totalen Gegensatz zeigen, Junge, in einem Dorf in Sansibar, dort wimmelt es von Leben. Du wirst mitkommen, Micke, sobald du mit der Schule fertig bist. Dann wirst du mit mir dort hinfahren. Das schärfste Reisebüro der Welt, verstehst du, nichts für Weicheier. Micke, du wirst mein Kompagnon.«
     
    Das Haus der Frau war aus Stein gebaut und lag etwas abseits unten am Mälarsee. Er hatte sie mit einer Schere in der Hand durchs Gras gehen sehen. Als er sich dichter heranschlich, konnte er erkennen, was sie tat. Sie schnitt braune Schnecken mitten entzwei. Er beobachtete ihr Gesicht, während die Eingeweide über die Schenkel der Schere quollen. Nicht eine Miene verzog sie, nicht mal ein Zucken.
    Schon mehrmals war er dort gewesen. Es war wie ein dringendes Bedürfnis, ein innerer Trieb, er musste sie sehen. Er kauerte sich immer zwischen die wild wachsenden Büsche und wartete. Sie würde ihn nicht entdecken, nicht bevor er selbst es entschied.
     
    Vor langer Zeit war er auch einmal im Haus gewesen. Direkt nachdem sie von dieser schicksalhaften Reise zurückgekehrt war. Allein. Sein Vater war nicht mehr bei ihr gewesen. Sie hatte ihn im Dschungel allein gelassen.
    Das war es, was er damals wissen wollte. Er musste es direkt von ihr hören. Und sie sagte es mit ihrem falschen Frauenmund geradeheraus:
    »Wir waren gezwungen, ihn zurückzulassen, denn wir fanden ihn nicht. Was sollte ich tun? Ich hatte keine Wahl.«
    In dem Frühling, als sein Vater allein im Dschungel zurückgelassen wurde, war er sechzehn Jahre alt.
    Du bist noch zu jung, Micke, um mitzukommen, du musst erst mit der Schule fertig werden.
    An seiner Stelle hatte Nathan diese Frau mitgenommen. Seine neue Frau mit dem komischen Namen. Justine. In die grüne Wildnis des Dschungels hatte er die Frau mitgenommen, sie beschützt und über sie gewacht, so verhielt er sich nämlich jenen gegenüber, die er liebte. Deshalb hätte auch sie bleiben müssen, als Nathan verschwand. Sie hätte nie zurückkehren dürfen. Das war der größte Verrat auf der Welt.
    »Ich habe nie jemanden so geliebt, wie ich deinen Vater geliebt habe.«
    Exakt diese Worte hatte sie
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