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Der Ruf des Kulanjango

Der Ruf des Kulanjango

Titel: Der Ruf des Kulanjango
Autoren: Gill Lewis
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und?«
    Ich schaute wieder rüber zum Fischadler. Er stand im Nest und starrte den Himmel an. Sein schriller Ruf erklang. »Kiii … kiii … kiii …«
    »Ist er mit seinem Nest fertig?«, fragte ich.
    »Glaub ich nicht«, sagte Iona. »Es wird immer größer und größer. Jedenfalls heißt es Horst , nicht Nest. Im Winter ziehen Fischadler nach Afrika.«
    »Das weiß ich«, entgegnete ich. »Du bist nicht die Einzige, die das weiß.«
    Der Fischadler marschierte um seinen Horst und rief noch einmal. Dann spreizte er seine riesigen Schwingen und erhob sich in die Lüfte. Er flog schräg über die Bäume hinter uns und zeigte die braun gestreifte Unterseite seiner Flügel und den weißen Bauch.
    »Wahrscheinlich holt er sich Fische«, sagte Iona. »Kann ewig dauern, bis er zurückkommt.«
    »Ich muss jetzt los«, verkündete ich. Mir waren die mutterlosen Lämmer eingefallen. Sie brauchten bald wieder ihre Flasche.
    »Ich geh auch zurück«, sagte Iona.
    Ich half ihr, die Tasche im hohlen Stamm zu verstauen, und ließ mich neben ihr zum Boden hinunter. Wir gingen den Weg am Fluss entlang. Inzwischen war die Luft warm und die feuchte Erde dampfte.
    »Wie war der Fisch?«, fragte ich.
    Iona grinste mich augenzwinkernd an. »Lecker.«
    »Wie hast du das gemacht?«, fragte ich. »Wie konntest du ihn mit bloßen Händen erwischen?«
    Iona lächelte. »Komm, ich zeig’s dir.«
    Ich folgte ihr zu einer Stelle am Flussufer, wo sich Wasserstrudel in ein ruhigeres Becken ergossen. »Was siehst du?«, fragte sie.
    Ich legte mich ins weiche Gras und schaute auf die Wasseroberfläche, in der sich die Wolken und das Sonnenlicht spiegelten.
    »Nichts«, sagte ich.
    »Du machst das nicht richtig«, sagte Iona. »Du musst tiefer reingucken.«
    Ich starrte auf das Wasser. Wolkenmuster trieben darüber hinweg. Ich versuchte mit meinem Blick die glitzernde Oberfläche zu durchdringen und die dunklen Schatten darunter zu erspähen. Felsen verschmolzen mit dem bräunlichen Flussbett. Alles bewegte und veränderte sich. Schilf, Schlamm und Blätter im Schlick. Und zwei Fische. Zwei Forellen, die der Strömung trotzten und die, wenn man vom leichten Schlagen des Schwanzes absah, ihre grün gesprenkelten Körper absolut still hielten.
    »Siehst du sie?«, flüsterte Iona.
    Ich nickte.
    »Lass jetzt deine Hand langsam in das Wasser hinter ihnen gleiten.«
    Ich ließ meine Hand ins Wasser sinken und kam denbeiden Fischen näher und näher, bis meine Finger nur noch Zentimeter von ihren Schwänzen entfernt waren.
    »Und jetzt gleite mit deinen Fingern unter sie und versuche, sie hinter ihren Kiemen zu streicheln«, sagte Iona.
    Ich streckte die Hand nach vorne und spürte für einen Augenblick den glitschigen Körper eines der Fische, bevor beide Fische ins tiefe Wasser davonschossen und verschwanden.
    Iona lachte. »Bei mir hat das zuerst ewig gedauert. Großvater hat es mir in einem Sommer beigebracht, als ich noch klein war.«
    Ich stierte ins Wasser, in der Hoffnung, die Fische zurückkehren zu sehen.
    »Menschen sind wie Flüsse«, sagte Iona. »Jedenfalls glaub ich das.«
    Ich setzte mich auf und wrang das Wasser aus meinem Ärmel. »Was meinst du damit?«
    Iona wich zurück und sah mich direkt an.
    »Du musst lernen, unter die Oberfläche zu schauen, um zu erkennen, was tief darunterliegt.«
    Ich steckte die Hände in die Taschen. Sie waren vom eisigen Wasser ganz kalt geworden. »Ich muss jetzt gehen.«
    »Also kann ich wieder herkommen?«, fragte Iona. »Auf euer Land?«
    Ich nickte. »Wir haben doch ein Abkommen geschlossen, oder etwa nicht?«
    Iona stand auf und lächelte. »Morgen Nachmittag wirdein Fischadlerweibchen kommen«, sagte sie. »Das Wetter wird schön. Ich bin mir sicher, dass sie kommt.«
    Ich lachte. »Ah ja, klar. Und du weißt es einfach, stimmt’s?«
    Iona drehte mir den Rücken zu. »Triff mich morgen oben am Berg, wenn du mir nicht glaubst. Ich werd auf sie warten.«
    Ich schaute hoch zum heidekrautbewachsenen Hügel über uns und konnte ganz oben die Silhouette des Steinhaufens erkennen, der den höchsten Punktes unseres Landes markierte. Das wäre ideal. Ich wollte einen Fischadler sehen, der nach Schottland zurückkehrte. Ich wollte ihn mit eigenen Augen sehen. Es wäre einfach toll, wenn hier, auf unserem Land, Fischadler nisten würden.
    »Okay, Iona«, sagte ich. »Ich bin dabei.«

Kapitel 6
    »Hast du gut gemacht, das mit den Lämmern gestern«, sagte Dad. »Vielleicht wird doch noch ein Bauer aus
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