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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch
Autoren: Philip Pullman
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seiner Tasche hatte er einen Fetzen Papier mit einer Adresse
darauf. Von Zeit zu Zeit holte er ihn heraus und verglich den Namen
der Straße, in der er sich befand, mit dem auf dem Zettel, bevor er ihn
wegsteckte und ein Stück weiterging. Jeder Beobachter hätte ihn für
betrunken gehalten, aber er hatte keine Fahne, seine Sprechweise war
nicht unartikuliert und seine Bewegungen nicht fahrig. Ein
mitfühlender Zeitgenosse hätte geglaubt, er sei krank oder habe
Schmerzen, und das wäre der Wahrheit näher gekommen. Wenn aber
irgend jemand ihm ins Herz gesehen und das Chaos gespürt hätte, das
dort herrschte, so hätte es ihn gewundert, daß der Seemann sich
überhaupt noch auf den Beinen halten konnte. Sein Bewußtsein war
von zwei fixen Ideen besessen: die eine hatte ihn 12000 Meilen bis
nach London getrieben, und die andere hatte verbissen dagegen
angekämpft.
Dann bezwang die zweite Idee fast die erste. Bedwell ging durch
eine Gasse in Limehouse -- ein enger, gepflasterter Platz; die vor
Feuchtigkeit bröckligen Backsteine schwarz vor Ruß -- als sein Blick
auf eine offene Tür fiel, vor der ein alter Mann regungslos auf der
Stufe saß. Es war ein Chinese. Er beobachtete Bedwell, und als der
Seemann vorbeiging, streckte er etwas den Kopf vor und sagte:
„Wülste rauchen?"
Bedwell spürte, wie jede Faser seines Körpers zur Tür drängte. Er
schwankte, schloß die Augen und sagte dann: „Nein, nein, kein
Bedarf."
„Erstklassige Ware", sagte der Chinese.
„Nein, nein", wiederholte Bedwell und zwang sich, weiterzugehen
und die Gasse hinter sich zu lassen. Wieder schaute er auf den Fetzen
Papier und ging etwa hundert Meter weiter, bis sich das Ganze
wiederholte. Langsam aber sicher ging er in westliche Richtung, durch
Limehouse und Shadwell; dann legte er eine Pause ein. Die
Dämmerung brach an, und er war mit seinen Kräften ziemlich am
Ende. In der Nähe befand sich eine Kneipe, der gelbliche Lichtschein
erhellte das häßliche Pflaster und zog ihn an wie eine Motte.
Er zahlte für ein Glas Gin und schlürfte daraus, als sei es Medizin --
unerquicklich, aber notwendig. Er beschloß, heute abend auf keinen
Fall weiterzugehen.
„Ich suche eine Pension", sagte er zu dem Barmädchen. „Gibt's da
irgendwas in der Nähe?"
„Zwei Häuser weiter", sagte das Barmädchen. „Bei Mrs. Holland.
Aber - "
„Das wird schon recht sein", sagte Bedwell. „Holland. Mrs.
Holland. Das kann ich mir merken." Er schulterte wieder seinen
Seesack.
„Wie fühlste dich, Liebling?" fragte das Barmädchen. „Siehst mir
nich so besonders gut aus. Gönn dir noch 'n Gin, los." Er schüttelte
mechanisch den Kopf und ging hinaus. Adelaide antwortete auf sein
Klopfen und führte ihn schweigend in einen Raum auf der Rückseite
des Hauses, der auf den Fluß hinausging. Die Wände trieften vor
Nässe, das Bett war schmutzig, aber er nahm es gar nicht wahr.
Adelaide gab ihm einen Kerzenstummel und verließ ihn; sobald die
Tür wieder zu war, fiel er auf die Knie und riß den Seesack auf. Seine
zitternden Hände arbeiteten eine Zeitlang emsig -- und dann lag er auf
dem Bett, atmete tief und fühlte, wie sich alles auflöste und tiefe
Nacht ihn umfing. Sehr bald war er in einen tiefen Schlaf gesunken.
Für die nächsten vierundzwanzig Stunden konnte ihn nichts
aufwecken. Er war in Sicherheit. Aber in Limehouse hatte er fast
aufgegeben; der Chinese, die Pfeife... Natürlich eine Opiumhöhle.
Und Bedwell war Sklave dieser mächtigen Droge. Er schlief, und
etwas für Sally sehr Wichtiges schlief mit ihm.
DER HERR AUS KENT
    Drei Nächte später hatte Sally wieder ihren Alptraum. Doch sie
fühlte sich protestieren, für einen Alptraum war es zu wirklich...
Die schreckliche Hitze.
Sie konnte sich nicht bewegen -- sie war an Händen und Füßen
gefesselt; es war dunkel... Schritte.
Und dann der Schrei, ganz plötzlich und ganz nah! Endloses
Geschrei -- Das Licht. Es bewegte sich flackernd auf sie zu. Dahinter
ein Gesicht -- zwei Gesichter -- ausdruckslose, fahle Gesichter mit vor
Schrecken aufgerissenem Mund -- das war alles -- Stimmen aus der
Dunkelheit: „Schaut doch! Schaut ihn an! Mein Gott -- "
Und dann wachte sie auf.
Oder eher: sie tauchte auf wie ein Schwimmer in Todesangst vor
dem Ertrinken. Sie hörte sich schluchzen und keuchen, und sie
erinnerte sich: da war kein Vater, du bist allein und mußt ohne ihn
auskommen. Du mußt stark sein. Mit ungeheurer Willenskraft brachte
sie sich dazu, mit dem
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