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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum
Autoren: Madeleine L'Engle
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Klasse. Als sie aufstand, überragte sie die anderen um Kopfeslänge. Stolz leierte sie: »Unser Körper ist aus Haut und Knochen gemacht, aus Muskeln und Blut – und noch viel mehr.«
    » Hervorragend , Albertina! Ist das nicht eine prima Klasse? Ich sehe schon, daß wir diesmal eine ganze Menge Wissenschaftler unter uns haben. – So, und jetzt … « Wieder blickte sie auf ihre Liste. »Hm, Charles Wallace. Soll ich dich Charly nennen?«
    »Nein«, erwiderte er. »Charles Wallace, wenn ich bitten dürfte.«
    »Deine Eltern sind doch wirkliche Wissenschaftler, nicht wahr?« Sie erwartete keine Antwort. »Nun, dann wollen wir einmal hören, was du uns zu berichten hast.«
    Charles Wallace stand auf – (»Warum konntest du dich nicht ein bißchen zurückhalten?« hatte ihm Meg an jenem Abend vorgeworfen) – und sagte: »Im Augenblick interessiere ich mich vor allem für Farandolae und Mitochondrien.«
    »Wie war das, Charles? Nitro-was?«
    »Mitochondrien. Sie und die Farandolae sind im Protoplasma tierischer und pflanzlicher Zellen zu finden.«
    » Worin ?«
    »Im Protoplasma. Sie tragen die Enzyme der Zellatmung, und mich beeindruckt immer mehr, daß trotz ihrer mikroskopisch winzigen Größe unser gesamter Sauerstoffhaushalt von ihnen abhängt.«
    »Nun aber Schluß, Charles! Hör auf, dummes Zeug zu faseln. Wenn ich dich das nächste Mal aufrufe, solltest du nicht versuchen, so anzugeben. – Und nun wird uns George ein wenig von sich erzählen … «
    Am Ende der zweiten Schulwoche war Charles Wallace am Abend in Megs Dachkammer gekommen.
    »Charles!« hatte sie zu ihm gesagt. »Kannst du nicht einfach den Mund halten?«
    Charles Wallace trug seinen gelben Kleinkinderpyjama, hatte frisches Heftpflaster auf seinen Wunden, lag mit geschwollener Stupsnase am Fußende ihres geräumigen Messingbetts und benutzte die wohligwarme schwarze Masse des Hundes als Kopfkissen. Charles wirkte müde und lustlos, aber das war ihr an jenem Abend noch nicht aufgefallen.
    »Das funktioniert nicht«, maulte er. »Gar nichts funktioniert. Bin ich still, heißt es, ich soll nicht schmollen. Kaum sage ich aber etwas, ist es schon falsch. Mit dem Arbeitsheft bin ich durch – die Lehrerin behauptet, du müßtest mir dabei geholfen haben —, und die Texte aus dem Lesebuch kenne ich längst auswendig.«
    Meg hatte die Knie mit den Armen umfaßt. Nachdenklich betrachtete sie ihren Bruder und den Hund. Fortinbras hatte auf Betten nichts zu suchen, doch diese Regel wurde in der Dachkammer großzügig übersehen. »Warum läßt man dich nicht in die zweite Klasse aufrücken?«
    »Du lieber Himmel! Die Kinder dort sind ja noch größer.«
    Allerdings. Das stimmte.
    Also hatte Meg sich entschlossen, Herrn Jenkins einen Besuch abzustatten. Eines Morgens – es war ein grauer, unfreundlicher Tag, und am Himmel kündigte sich ein Sturm an – nahm sie, wie alle Tage, um sieben Uhr ihren Bus. Der zur Dorfschule kam erst eine Stunde später; der mußte ja auch nicht so weit fahren. An der ersten Haltestelle im Ort stieg sie wieder aus und ging die letzten drei Kilometer zu Fuß. Die Schule war in einem alten, heruntergekommenen Gebäude untergebracht, dessen Fassade man einfach rot angepinselt hatte, um es nach außen hin besser wirken zu lassen – was aber zum Beispiel nichts am krassen Lehrermangel änderte.
    Meg schlüpfte beim Seiteneingang hinein, den der Hausmeister meist früher öffnete. In der Eingangshalle, deren Türen noch verschlossen waren, summte die elektrische Bohnermaschine. Das Geräusch war so laut, daß Meg ungehört durch die Halle huschen und in einer engen Besenkammer Zuflucht finden konnte. Dort drinnen drückte sie sich zwischen Wischtücher und Besen. Es roch muffig und nach Staub, und Meg konnte nur hoffen, daß sie nicht niesen mußte, ehe Herr Jenkins in seinem Büro eintraf und die Sekretärin ihm den gewohnten Morgenkaffee brachte. Meg veränderte ihre Lage, bis sie durch einen schmalen Spalt die Bürotür gegenüber einigermaßen im Auge hatte.
    Als drüben endlich das Licht angeknipst wurde, mußte Meg mit verstopfter Nase und steifen Beinen noch scheinbar endlos warten – in Wirklichkeit wohl kaum eine halbe Stunde – und lauschte auf das Klicken der hochhackigen Schuhe, wenn die Sekretärin im Raum hin und her ging. Dann wurden die Schultore geöffnet, und die Kinder kamen laut lärmend hereingestürmt. Meg dachte an Charles Wallace, der jetzt, eingeklemmt zwischen meist Ältere und Größere, vom Strudel
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