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Der Ramses-Code

Der Ramses-Code

Titel: Der Ramses-Code
Autoren: Michael Klonovsky
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Mutter.
    Einer unbestimmten Ahnung folgend, trat Jacques Champollion hinter den Jungen, deutete auf den Anfang eines Psalms und forderte ihn auf: »Lies mir doch bitte einmal diesen Satz vor!«
    »Aber das ist doch Unsinn«, mischte sich seine Frau ein, »wie soll denn der Junge …«
    »Wie gütig ist Gott zu den Redlichen, zu allen, die lauteren Herzens sind«, las Jean-François, ein wenig unbeholfen zwar und etwas holprig bei »lauteren«, aber trotzdem flüssig.
    Der Vater blätterte verwirrt ein paar Seiten um und befahl: »Und jetzt diese Stelle!«
    »Seinem Grimme schuf er offene Bahn, da war keine Schonung mehr vor dem Tod. Und er schlug alle Erstgeburt in Ägypten«, las Jean-François.
    Ging das mit rechten Dingen zu? Nein, das konnte nicht sein! Als ob es noch eines Beweises bedurfte, blätterte der Buchhändler hektisch weiter. »Und nun«, sagte er mit bebender Stimme, »lies das hier.«
    Der Junge gehorchte. »Preise den Herrn, meine Seele! Mein Gott, wie bist du überaus groß! Gekleidet bist du in Hoheit und Würde, wie ein Mantel umhüllt dich das Licht. Den Himmel hast du ausgespannt wie ein Zelt, deine Wohnung errichtet über den Wassern. Die Wolken erschufest du dir zum Wagen … Hört ihr eigentlich noch zu?« fragte er aufblickend.
    Die Eltern starrten den Knaben an wie eine Erscheinung.
    »Wieso kannst du lesen?« fragte der Vater ihn schließlich. »Ich meine: seit wann? Und wer hat es dir beigebracht?«
    »Das habe ich mir selbst beigebracht, mit den alten Büchern in deinem Laden«, erwiderte der Junge.
    Die Mutter klatschte in die Hände. »Aber das ist ja großartig«, rief sie und gab ihm einen Kuß. »Mein kleines Genie!Du wirst bestimmt einmal ein großer Gelehrter. Jacques, ist das nicht wunderbar? Lion kann lesen!«
    Der Buchhändler teilte ihre Begeisterung nicht und verließ mit finsterer Miene die Küche.
    Erregt berichtete er seinem ältesten Sohn von dem Vorfall. Jacques-Joseph zählte damals achtzehn Jahre und galt in der ganzen Stadt als überaus befähigter junger Mann mit großer Zukunft. Mit vierzehn hatte er sein Abitur abgelegt; kurz darauf wurde er am Städtischen Korrespondenzbüro angestellt. Während der Revolutionswirren, als überall im Land die Guillotinen ihr blutiges Werk verrichteten, hatte der Buchhändler einem befreundeten, von den Jakobinern verfolgten Benediktiner, Kanonikus Seycey, in seinem Haus Asyl gewährt. Dieser Seycey gab Jacques-Joseph Privatunterricht in Philosophie, Geschichte und den alten Sprachen. Für den Flüchtling, der das Haus nicht verlassen durfte, wenn er seinen Kopf behalten wollte, waren die abendlichen Lehrstunden eine willkommene Ablenkung, und der lernbegierige älteste Champollion-Sproß war froh über den Wissenszuwachs inmitten der bildungsfeindlichen Revolutionszeit, denn alle Schulen waren geschlossen worden. Nach dem Sturz der Jakobinerdiktatur und der Hinrichtung ihrer Führer im Juli 1794 blieb Jacques-Joseph allein auf seinem Posten im städtischen Korrespondenzbüro. Noch keine sechzehn Jahre alt, war er mit der Verwahrung sämtlicher Akten der Distriktverwaltung betraut, er besaß die Schlüsselgewalt über das Stadtarchiv, und über seinen Tisch gingen Gesetze, Urteilssprüche, Urkunden, Paßgenehmigungen, amtliche Drucke, offizielle Briefe, Denkschriften und Befehle. Die Stadtväter spendeten Jacques-Joseph höchstes Lob und ernannten ihn zum Sekretär. So avancierte der junge Bursche zum begehrten Verwaltungsexperten, und diese frühe Karriere war ein Grund, warum er auf die Lernerfolge seines Bruders nicht mit ähnlich abergläubischem Entsetzen reagierte wie der Vater.
    »Ich habe Jean-François das Lesen nicht beigebracht«, erklärte Jacques-Joseph.
    »Dann war es Seycey«, murmelte der Buchhändler.
    »Seycey hat uns im Sommer 94 verlassen, da war Lion drei Jahre alt.«
    »Aber er kann es sich doch nicht selbst beigebracht haben!«
    »Offenbar doch. Er ist ein rechtes Wunderkind.«
    »Wunderkind? Ich denke vielmehr, mein Lieber, daß du hinter der Sache steckst!«
    »Ich habe ihm ein wenig geholfen«, gab Jacques-Joseph nun zu. »Aber wirklich nur ein wenig – nur, wenn er mich etwas Konkretes gefragt hat. Du weißt doch, wie es um meine Zeit bestellt ist. Meistens schläft er schon, wenn ich heimkomme. Nein, im Grunde hat er allein herausgefunden, was die einzelnen Buchstaben unterscheidet und was sie bedeuten. Wie oft hat er in deinem Laden gesessen und Seite für Seite abgeschrieben. Er sollte bald mit
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