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Der Ramses-Code

Der Ramses-Code

Titel: Der Ramses-Code
Autoren: Michael Klonovsky
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seine Sympathie von frühester Kindheit an den beiden steinernen Löwen galt, die im Eßzimmer die Kaminkonsoletrugen, taufte ihn sein Bruder auf den Kosenamen Lion. »Das paßt: Champol-lion«, hatte der Kleine seinerzeit, da war er vier oder fünf, gelacht, wobei seinem Vater nicht im Traum eingefallen wäre, daß er den Namen bereits buchstabieren konnte. Die Augen des Knaben waren ungewöhnlich groß und blickten so hellwach und überaufmerksam, daß man Angst bekommen mochte, von ihnen aus der Welt herausgesogen zu werden. Zugleich aber konnten sie in manischer Konzentration auf irgendeinen inneren Gegenstand mit höchst aufmerksamem Desinteresse durch einen Menschen hindurchschauen. Und ihre Hornhaut besaß einen Stich ins Gelbe – wie bei einem Orientalen! Auch der pergamentfarbene Teint des Kindes schlug aus der Art, nicht nur jener der Familie, sondern aus der europäischen überhaupt. »Das soll mein Sohn sein?« dachte der Buchhändler oft.
    Und wie merkwürdig der Junge sich benahm! Stundenlang beschäftigte er sich mit nichts als sich selbst, ja, es schien ihm geradezu unangenehm zu sein, wenn sich die Eltern ihm näherten. Einmal, es war im Frühsommer 1793, und ein ungeheures Gewitter entlud sich über Figeac, war der zweieinhalbjährige Knabe plötzlich verschwunden. Während draußen der Regen peitschte, ein heftiger Wind ging und Donnerschläge grollten, suchte man überall im Haus vergeblich nach ihm. Schließlich trat Jeanne Champollion voller Sorge in den Regen hinaus, um nachzuschauen, ob er eventuell auf die Straße gelaufen war – da entdeckte sie ihn im Aufscheinen eines Blitzes auf dem Dach! Mit ausgebreiteten Armen, einer Schwalbe gleich, die zum Flug ansetzt – oder wie ein Hohepriester, der die Gestirne anbetet –, hockte das Kind im strömenden Regen und starrte in den blitzdurchzuckten Himmel. »Was hast du denn dort oben gesucht?« fragten ihn die Eltern, nachdem der Vater den bis auf die Haut durchnäßten Winzling ins Haus zurückgebracht hatte. Er habe vom Feuer des Himmels etwas für sich aufzufangen gesucht, lautete die seltsame Anwort.
    »Hast du dich denn nicht gefürchtet?«
    »Ein wenig«, hatte der Kleine geantwortet und war auf sein Zimmer gelaufen.
    Als er fünf Jahre alt war, tauchte er eines Tages, anstatt mit den Nachbarskindern um die Birnbäume hinter dem Haus zu tollen, im Buchladen auf, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Der Vater war eher gerührt als zum Tadeln geneigt, weil er meinte, der Knabe, der sich normalerweise gegen Zärtlichkeiten sträubte, sei ihm aus Zuneigung ins Geschäft nachgelaufen, und weil er überrascht war, daß er allein dahin gefunden hatte – immerhin lag ein Fußweg von einer guten Viertelstunde zwischen der Rue de la Bodousquerie und der Place Basse, wo, zwei Stufen über dem Trottoir, eine mit einer Glocke versehene Tür ins Reich des Buchhändlers führte, in dem es nach dem Holz der Regale und verstaubtem altem Papier roch. Aber der eintretende Knabe kümmerte sich gar nicht um den Vater. Er drehte ein paar prüfende Runden durch die beiden Räume und verschwand schließlich im hinteren, dem Magazin, wo er, als Jacques Champollion etwas später nach ihm sah, von alten Druckschriften und Stichen umgeben, mit dem Rücken an ein Regal gelehnt, saß und malte. Er malte Buchstaben!
    »Was machst du da, Lion?« erkundigte sich der Buchhändler.
    »Ich löse ein Rätsel.«
    »Was für ein Rätsel?«
    »Das darf Lion noch nicht verraten.«
    Eines Sonntags fragte er seine Mutter, ob er ihr in der Küche Gesellschaft leisten und aus dem Gesangbuch vorlesen dürfe. Jeanne Champollion war eine gottesfürchtige Frau, die ihren Kindern und insbesondere dem Jüngsten viel aus dem frommen Psalter vorlas, so daß sie sein Ansinnen erheiterte, einmal die Rollen zu tauschen. Der Knirps nahm sich das abgegriffene schwarze Buch, schlug es auf und begann vorzutragen, während die Mutter am Herd werkelte und mit halbem Ohr dem Singsang lauschte, ohne weiter auf seine Worte zu achten. Was sich alles in so einem Kinderkopf festsetzen kann! dachte sie.
    In der Tat zog sich der Vortrag beträchtlich in die Länge. Jeanne Champollion begann sich in jenem Augenblick zu wundern und genauer zuzuhören, als ihr Mann die Küchebetrat. Sein Blick fiel auf den Jungen, der, ohne aufzusehen, weiterlas.
    »Was machst du da, Lion?« fragte er.
    »Ich lese Mama aus dem Gesangbuch vor«, antwortete der Kleine.
    »Lion hat ein gutes Gedächtnis«, sagte die
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