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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi
Autoren: Noah Gordon
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den Abend des Samstags war er mit Dessamae Kaplan verabredet, einem Mädchen zwischen Kind und Frau, so blauäugig und rothaarig, daß Michael seinen Sohn um sie beneidete.
    Sie wollten zu einer Tanzveranstaltung gehen, die in einer Scheune über dem See stattfand. Für den Nachmittag hatten Leslie und Michael ein paar Freunde ihres Sohnes zu einer kleinen Geburtstagsparty eingeladen, in der Absicht, ihm danach die Wagenschlüssel auszuhändigen, so daß er zum Geburtstag erstmals ohne elterliche Aufsicht fahren könne.
     
    Aber am Mittwoch vorher war Leslie in Depression verfallen und ins Krankenhaus gekommen, und Freitag vormittag hatte Michael erfahren, daß von baldiger Entlassung keine Rede sein könne. Hierauf hatte Max seinen Fahrprüfungstermin und auch die Party abgesagt. Als Michael aber hörte, daß Max auch Dessamae versetzte, meinte er, daß Einsiedlertum der Mutter nicht helfe.
    »Ich mag nicht hingehen:, sagte Max einfach. »Du weißt doch, was am anderen Seeufer steht.«
    Michael wußte es und redete Max nicht mehr zu. Es ist kein Vergnügen für einen Burschen, sein Mädchen am Wasser spazierenzuführen und drüben das Krankenhaus vor Augen zu haben, in das seine Mutter kürzlich eingeliefert worden war.
    Den größten Teil des Tages verbrachte Max lesend im Bett. Dabei hätte Michael die üblichen Clownerien seines Sohnes gut brauchen können, weil er mit Rachel, die nach ihrer Mutter verlangte, nicht zurechtkam.
    »Wenn sie nicht heraus darf, so gehen wir sie doch besuchen.« »Das geht nicht«, sagte er ihr immer wieder. »Es ist gegen die Vorschriften. Jetzt ist keine Besuchszeit.«
    »Wir schleichen uns hinein. Ich kann ganz leise sein.«
    »Geh und zieh dich an zum Gottesdienst«, sagte er beschwichtigend. »In einer Stunde müssen wir im Tempel sein.«
    »Daddy, es geht wirklich. Wir brauchen nicht mit dem Auto rund um den See zu fahren. Ich weiß, wo wir ein Boot finden. Wir können direkt hinüberrudern und Momma sehen, und dann fahren wir gleich wieder zurück. Bitte.«
     
    Er konnte nichts tun, als ihr einen freundlichen Klaps hinten drauf geben und aus dem Zimmer gehen, um ihr Weinen nicht zu hören. Im Vorbeigehen warf er einen Blick in das Zimmer seines Sohnes.
    »Mach dich fertig, Max. Wir müssen bald in den Tempel.« »Ich möchte lieber nicht mitkommen, wenn du nichts dagegen hast.«
    Michael sah ihn fassungslos an. Niemand in ihrer Familie hatte je, außer im Krankheitsfall, einen Gottesdienst versäumt. »Warum?« fragte er.
    »Ich mag nicht heucheln.«
    »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
    »Ich hab den ganzen Tag darüber nachgedacht. Ich bin nicht sicher, daß es einen Gott gibt.«
    »Du meinst, Gott wäre nicht existent?«
    Max sah seinen Vater an. »Vielleicht. Wer weiß das schon wirklich?
    Niemand hat je einen Beweis gehabt. Vielleicht ist er eine Legende.«
    »Du glaubst also, ich hätte mehr als mein halbes Leben damit zugebracht, Schall und Rauch zu dienen? Ein Märchen fortbestehen zu lassen?«
    Max antwortete nicht.
    »Deine Mutter ist krank geworden«, sagte Michael, »und da hast du in deiner Weisheit dir ausgerechnet, daß es keinen Gott geben kann, denn Er hätte das nicht zugelassen.«
    »Stimmt.«
    Dieses Argument war nicht neu; Michael war nie imstande gewesen, es zu widerlegen, und er wollte es auch nicht. Ein Mensch glaubt entweder an Gott, oder er glaubt nicht.
     
    »Dann bleib zu Hause«, sagte er. Er wusch Rachels gerötete Augen und half ihr beim Anziehen. Als sie wenig später das Haus verließen, hörte er eben noch, wie Max auf seiner Harmonika einen Blues zu gellen begann.
    Für gewöhnlich unterließ es sein Sohn aus Achtung vor dem schabat , am Freitagabend zu spielen. An diesem Abend aber konnte Michael es gut verstehen. Wenn es wirklich keinen Gott gab, wie Max argwöhnte, wozu sollte er sich länger an das sinnlose Gekritzel auf dem Totempfahl halten?
    Michael und Rachel waren die ersten im Tempel, und er öffnete alle Fenster, in der Hoffnung auf einen leichten Windhauch. Als nächster kam Billy O'Connell, der Organist, und dann Jake Lazarus, der Kantor.
    Jake verschwand wie üblich sofort auf der Herrentoilette, kaum daß er sich in seinen schwarzen Talar gekämpft und das Käppchen aufgesetzt hatte. Dort blieb er immer genau zehn Minuten, beugte sich über die Waschmuschel und sah in den Spiegel, während er seine Stimmübungen machte.
    Der Gottesdienst war für halb neun angesetzt, aber bis dahin hatten sich nur sechs weitere Gläubige
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