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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi
Autoren: Noah Gordon
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sich Hand in Hand in den Schnee, und er hätte den Augenblick gern ums Verweilen gebeten. Aber der Wind wehte ihnen den Pulverschnee in geisterhaften Schleiern ins Gesicht, und der Rücken wurde ihnen kalt und gefühllos, so daß sie nach einer Weile aufstehen und den Gipfel verlassen mußten, hinunter in Richtung auf den Krankenhauskomplex.
    Elizabeth Sullivan kochte Kaffee in ihrem Verschlag und lud sie auf einen Schluck zu sich. Sie setzten sich eben zum Trinken, da sah Dan Bernstein auf seiner Morgenvisite herein und streckte den Finger anklagend gegen Leslie aus. »Ich habe eine Überraschung für Sie: wir haben gerade in der Teamsitzung über Sie gesprochen und sind drauf und dran, Sie demnächst hinauszuschmeißen.«
    »Und wann?« fragte Michael.
    »Oh, noch eine Woche Behandlung, ein paar Tage Erholung, und dann: Good-by, Johnny! « Er klopfte Michael auf die Schulter und begab sich dann auf die Station, gefolgt von Miss Sullivan mit ihrem Karteiwägelchen.
    Leslie wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen.
    So lächelte sie Michael nur zu, hob die Kaffeetasse, er stieß mit ihr an, überlegte sich eine kleine humorvolle Rede, die aber alles Nötige enthalten sollte - und wußte plötzlich, daß es da gar nichts zu reden gab. Statt dessen schluckte er den Kaffee hinunter und verbrannte sich dabei die Zunge.
    Am nämlichen Abend fuhr Max mit dem Wagen am Tempel vor und wartete, bis Michael ausgestiegen war.
    »Gute Nacht, Dad. Und ein gutes neues Jahr.«
    Ohne zu überlegen, lehnte Michael sich über den Sitz und küßte den Jungen auf die Wange, wobei er sein eigenes Rasierwasser zu riechen bekam.
    »He, was soll denn das heißen?«
    »Ach - es ist das letztemal, weißt du. Ab morgen bist du schon zu groß dafür. Fahr vorsichtig, ja.«
    Die Festhalle im Erdgeschoß war voll von Besuchern mit kindischen Papierhütchen auf den Köpfen. Hinter der improvisierten Bar verkauften Gemeindefunktionäre Getränke zugunsten der Hebräischen Schule, während fünf Musiker einen heißen Bossa Nova hinlegten und die Damen in doppelter Reihe ihre Körper im Rhythmus bewegten, die Augen ekstatisch geschlossen, als nähmen sie an einem Stammesritual teil.
    »Achtung, der Rabbi! « rief Ben Jacobs in den Raum. Michael machte langsam die Runde.
    Jake Lazarus haschte nach seiner Hand. » Nü , wieder zwölf Monat, wieder ein Jahr herum. Zweiundfünfzigmal schabess gefeiert«, sagte der Kantor mit träumerisch verschleiertem Blick. »Und aber ein paar Jahr, und wir feiern Jahrhundertwende. Das Jahr zweitausend, stellen Sie sich vor.«
     
    »Versuchen Sie lieber, sich vorzustellen, daß wir das Jahr fünftausendsiebenhundertundsechzig feiern«, sagte Michael. »Unsere Zeitrechnung ist nämlich die ältere.«
    »Ob zweitausend oder fünftausendsiebenhundertsechzig, was macht das schon aus. Da werde ich in jedem Fall hundertdrei Jahre alt sein.
    Was glauben Sie, Rabbi, wie dann die Welt aussehen wird?« »Mein lieber Jake, bin ich ein Hellseher?« Und er gab dem Kantor einen freundlichen petsch auf die Wange.
    Er trat an die Bar und verließ sie mit einem generös eingeschenkten Bourbon. Auf einem der Tische, die die Damen der Gemeinde mit Fressalien beladen hatten, entdeckte er inmitten der Tabletts mit tajglach und Backwaren ein wahres Wunder: eine Schüssel kandierten Ingwers. Er nahm zwei Stück davon, verließ die Halle und ging die Treppe hinauf.
    Nachdem er die Tür zum Andachtsraum hinter sich geschlossen hatte, drang der Lärm nur mehr gedämpft herauf. Er stand im Finstern, aber er kannte seinen Tempel und brauchte kein Licht. Er ging im Mittelschiff nach vorn bis zur dritten Reihe, wobei er die Hand um den Glasrand hielt, damit er nichts verschüttete. Er setzte sich hin, trank den Whisky in kleinen Schlucken und knabberte am Ingwer. Drei Bissen - ein Schluck. War dies das rechte Verhältnis?
    Denn der Ingwer war bald aufgegessen, und er hatte noch eine ganze Menge Bourbon. So trank er weiter und hing in der Dunkelheit seinen Gedanken nach. Und in dem Maß, wie seine Augen sich an das Dunkel gewöhnten, begann es sich um ihn zu lichten. Schon konnte er Umrisse unterscheiden, schon konnte er ganz gut das Lesepult ausnehmen, von dem aus er in vierundzwanzig Stunden den Sabbat-Gottesdienst leiten würde. Wie viele Predigten hatte er nun schon seit jener ersten in Miami gehalten? So viele Predigten, so viele Worte. Er lachte vor sich hin.
    Nicht so viele, wie noch vor ihm lagen; er spürte es in allen
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