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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi
Autoren: Noah Gordon
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praktische Erfahrung, daß die Behandlung zu Heilerfolgen führte. Nach einer dieser Theorien ließ der elektrische Strom die abnormen Gehirnschaltungen durchbrennen; nach einer zweiten kam der Elektroschock dem Todeserlebnis so nahe, daß er dem Strafbedürfnis Genüge tat und die Schuldgefühle, welche den Patienten in die Depression getrieben hatten, beruhigte.
    Genug! Er las nicht mehr weiter.
    An jedem Behandlungstag rief er um neun Uhr im Krankenhaus an und erhielt jedesmal von der Stationsschwester die gleichlautende, mit ausdruckslos-nasaler Stimme gegebene Auskunft, daß die Behandlung ohne Störung verlaufen sei und Mrs. Kind schlafe.
    Er mied die Menschen, beschäftigte sich mit Schreibarbeiten, erledigte erstmals im Leben seine gesamte Korrespondenz, ja machte sogar Ordnung in seinen Schreibtischladen. Trotzdem: am zwölften Tag der Schocktherapie rief ihn sein Amt. Am Nachmittag mußte er zu einer briss-mile , wo er den Segen sprach über ein Kind namens Simon Maxwell Shutzer, während der mojhel die Vorhaut wegschnitt, der Vater erbebte und die Mutter erst schluchzte und dann befreit lachte. Hernach durch-maß er das Leben von der Geburt bis zum Tod in kaum zwei Stunden, denn sie begruben die alte Sarah Myerson, deren Enkel weinend dem ins Grab sinkenden Sarg nachsahen. Als er nach Hause kam, war es bereits dunkel. Er war hundemüde. Schon auf dem Friedhof hatte der Schnee zu wehen begonnen, so daß die Gesichter brannten. Michael fror bis ins Mark. Eben wollte er der Hausbar einen Whisky entnehmen, da sah er den Brief auf dem Vorzimmertisch. Als er nach ihm griff und die Handschrift darauf erkannte, zitterten ihm die Hände beim öffnen. In Bleistiftschrift auf billigem, wahrscheinlich geborgtem blauem Briefpapier las er:

    Mein Michael, 
    heute nacht hat eine Frau durch den ganzen Saal geschrien, daß ein Vogel gegen ihr Fenster schlage, mit seinen Flügeln immer gegen ihr Fenster schlage. Schließlich haben sie ihr eine Injektion gegeben, und sie ist eingeschlafen. Und heute früh hat ein Wärter den Vogel gefunden, es war ein Spatz, schon ganz vereist, auf dem Fußweg.
    Sein Herz hat noch geschlagen, und als sie ihm mit einem Tropfer warme Milch einflößten, hat er sich erholt. Der Wärter hat ihn der Frau dann gezeigt. In der Apotheke haben sie ihn in eine Schachtel gegeben, aber heute nachmittag war er tot.
    Ich bin in meinem Bett gelegen und habe an die Waldvogelrufe vor unserer Hütte in den Ozarks gedacht, und daran, wie ich in Deinen Armen gelegen bin und ihnen gelauscht habe, nach der Liebe, und in unserer Hütte war nur unser Herzschlag zu hören und draußen nichts als der Vogelschlag.
    Ich sehne mich nach meinen Kindern, ist alles in Ordnung mit ihnen?
    Vergiß nicht, warme Wäsche anzuziehen, wenn Du ausgehen mußt. Iß viel frisches Gemüse und würz nicht zu stark.
    Alles Gute zum Geburtstag, Du Armer!
    Leslie

    Mrs. Moscowitz kam herein, um zum Abendessen zu rufen. Erstaunt blickte sie auf seine nassen Wangen. »Ist etwas passiert, Rabbi?«
    »Meine Frau hat geschrieben. Es geht ihr schon besser, Lena.« Das Abendessen war, wie immer, verbraten. Zwei Tage später eröffnete Mrs.
    Moscowitz, daß ihr verwitweter Schwager, dessen Tochter in Willimantic, Connecticut, darniederlag, sie brauche. Auf Mrs. Moscowitz folgte Anna Schwartz, ein fettes grauhaariges Weib. Sie war asthmatisch, hatte am Kinn einen Auswuchs, war aber sonst sehr sauber und verstand sich aufs Kochen, sogar auf lokschenkugl mit Rosinen und Zibeben - und mit einer Kruste, zu schade zum Hineinbeißen.

2
    Als die Kinder ihn fragten, was die Mutter geschrieben habe, sagte er nur, es sei ein verspäteter Geburtstagswunsch gewesen. Es war kein Wink mit dem Zaunpfahl - oder vielleicht doch: jedenfalls bestand anderntags das Resultat in einer selbstgezeichneten Glückwunschkarte Rachels und in einer gekauften von Max sowie in einer schreienden Krawatte von beiden; sie paßte zu keinem seiner Anzüge, aber er trug sie an jenem Morgen im Tempel.
    Geburtstage stimmten ihn optimistisch. Es waren Wendepunkte, wie er sich voll Hoffnung sagte.
    Der sechzehnte Geburtstag seines Sohnes fiel ihm ein - das war vor drei Monaten gewesen.
    An diesem Tag hatte Max seinen Glauben an Gott verloren. Sechzehn Jahre, das ist das Alter, mit dem man in Massachusetts um einen Führerschein ansuchen kann.
    Michael hatte Max in seinem Ford Fahrunterricht erteilt. Die Prüfung war auf Freitag, den Vorabend seines Geburtstags, festgesetzt, und für
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