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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Autoren: Cordula Simon
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entsetzlich leeren Magen wie seinen waren sie zu wenig und mit dem Hund stand es wohl genauso. Da der Hund sich schneller bewegte als Anatol, er wedelte im Rhythmus seines Trottes mit dem Schwanz oder trottete, wie es das Schwanzwedeln vorgab, wer konnte das schon sagen?, gab abermals dieser die Richtung vor und Anatol bemühte sich, weder den Hund, auf den er sich in dieser Nacht schon einmal hatte verlassen können, aus den Augen zu verlieren, noch zu vergessen, in der Umgebung nach Anhaltspunkten zu suchen, wo er sich befinde, nach bekannten Zeichen. Sähe doch nicht ein Kiosk aus wie der andere und diese Haltestelle wie die letzte, die sich nur durch die Anzahl der Frauen und durch die Muster auf deren Schürzen von der vorhergehenden unterschied. Die Namen beider Haltestellen, ukrainische schwarze Lettern auf einer weißen Blechtafel, sagten Anatol nichts. Käme doch endlich ein Orientierungspunkt, dass er immerhin sicher sein könnte, dass der dreckige Hintern des Hundes, dem er mangels besserer Ideen folgte, ihn nicht wie ein Irrlicht führte. Beinahe hätte er, trotz allen Unglaubens, zu dem er neigte, ein Stoßgebet gesprochen, wäre nicht gerade in diesem Moment eine Maršrutka vorbeigefahren. Das Papier im Fenster, auf dem ihre Destinationen verzeichnet waren, war beinahe so gelb wie der Bus selbst, und das endgültige Ziel hieß: Zentrum. Čelobakas Richtung stimmte offenbar mit dem Ziel der Maršrutka überein. Ins Zentrum bedeutete immer: Dahin, wo Anatol sich auskannte, dahin, wo die Straßen nur parallel oder normal zueinander verliefen, von dort weg würde er leicht nach Hause gelangen. Er seufzte, musste sich in der Folge bemühen, mit dem Tier weiterhin Schritt zu halten. Er hatte schon völlig vergessen, wie seine Wohnung aussah, ob er aufgeräumt hatte, was er zuletzt getan hatte. Er versuchte sich zu erinnern, wie es dazu gekommen war, dass er die Wohnung zurückgelassen hatte, und es fiel ihm schwerer und schwerer, den Hund nicht aus den Augen zu verlieren, als er versuchte, sich an den letzten Moment zu Hause zu erinnern. Hatte er das Gas am Herd abgedreht? Die Tür abgeschlossen? Und wäre ihm klar gewesen, dass er sich auf einem Friedhof befunden hatte, hätte er sich gewiss auch gefragt, welcher Friedhof es gewesen sei, ob der Friedhof weit entfernt von seiner Tür war und wie oder vielmehr in welchem Zustand er diesen Weg zurückgelegt hatte. Doch stattdessen fragte er sich, ob das Licht wohl noch brenne. Er wandte den Kopf, glaubte, Čelobaka sei verschwunden. Selbst wenn die nächste Maršrutka käme, wer weiß, wie lange er ihrem Weg folgen müsste, ob er die richtigen Abzweigungen ins Zentrum fände, der Hund nicht vielleicht einen kürzeren Weg mit ihm marschierte, und zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, und das hieß gerade nicht viel, denn er erinnerte sich nicht einmal recht an seine eigene Wohnung, hatte er das Gefühl, einsam zu sein. Und seinem Herzen war unwohl, unbequem in dieser Brust, es wollte sich drehen, wenden. Er rieb sein Brustbein, konnte keinen Herzschlag ausmachen, doch der Puls ging offenbar weiter. Nie hatte es etwas bedeutet, niemanden bei sich zu haben, denn es lag nur Bedeutung darin, nicht allein zu sein. Die Bedeutungslosigkeit, die Ruhe, die damit einherging, hatte er bisher immer genossen, denn er hatte keinen Grund, sich davor zu fürchten. Andere Menschen dagegen bedeuteten meist eben das: Unruhe. Die Unruhe, sich kümmern zu müssen, die Unruhe, dass von ihm, Anatol, was auch immer gefordert wurde, und oft, was er nicht zu geben bereit war: die Ruhe und das Alleinsein aufgeben zu müssen. Die Fenster der mit bereits gesprungenem Glas verschlossenen Veranda seines Quartiers zu schließen, sich anzuschauen, ohne selbst beachtet zu werden, was im Hof vor sich ging, wie die Großmütter sich über die Strecke des Hofes hinweg auf den gegenüberliegenden Balkonen unterhielten, wie die Nachbarin von gegenüber zur Arbeit ging, nach Hause kam, meist solange es noch hell war. Die wenigsten jungen Frauen wagen es, allein zu wohnen. Wie der Junge, der am Ende des Hofes wohnte, er musste etwa zwölf sein, einem Mädchen sein Taschenmesser zeigte und es küsste, Messer wie Mädchen, das gewiss zwei Köpfe größer war als er. Der Einzige, der Anatol auf seinem Posten bemerkte, ihm zugrinste, stolz und spöttisch. Er würde noch früh genug die Abwesenheit all jener Mädchen, die für ihn nur dadurch bedingt war, dass er als Schüler noch bei seinen Eltern
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