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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe
Autoren: Jonathan Kellerman
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zerzaust.
    Er erinnerte sich: Die Strähnen hatten ihn wie verrückt gekitzelt, und das hatte ihr einen Riesenspaß gemacht.
    Oh, bist du kitzelig?
    Sie hatte sich auf seine Rippen gestürzt und mit kräftigen kleinen Fingern zugepackt. Kichernd wie ein Kind, weil sie so zufrieden mit sich war.
    Er starrte das Foto lange Zeit an, schob es in einen Briefumschlag ohne Aufschrift und legte ihn in die unterste Schreibtischschublade.
    Oben auf die
Neugier
-Mappe.
    Arthur war braun geworden.
    Der goldene Glanz, verbunden mit seiner gesunden Gesichtsfarbe, verlieh der Haut des Mannes etwas Fluoreszierendes. Fast achtzig war er, aber ein Bild der Vitalität. Auf Reisen zu sein – und zu lernen – hatte ihm gut getan.
    Er fand Jeremy genauso vor wie beim ersten Mal. Allein an einem Tisch im Speisesaal der Ärzte. 15 Uhr, eine ungewöhnliche Zeit zum Mittagessen. Jeremy hatte seinen Tag mit Terminen voll gestopft, wie er es mit jedem seit der Nacht im Keller getan hatte, und bis jetzt noch nichts gegessen. Der Speiseraum war leer.
    Arthur trug einen schönen königsblauen Nadelstreifenanzug und ein rosafarbenes Hemd mit einem kontrastierenden weißen Kragen. Seine Fliege war aus goldener Schantungseide. Ein grünblaues Einstecktuch bauschte sich in seiner Brusttasche. In einer Hand hatte er eine Tasse Tee, in der anderen hing eine Aktentasche aus poliertem Leder. Eine große, handgenähte, mit Arthurs Initialen bedruckte Tasche, die Jeremy noch nie gesehen hatte.
    »Darf ich mich setzen?«
    »Natürlich.«
    Arthur nahm Platz und ließ sich Zeit damit, seinen Teebeutel einzutunken. Starrte Jeremy direkt in die Augen.
    »Wie war Ihre Reise, Arthur?«
    »Hervorragend.«
    »Auf jeder Reise lernt man dazu.«
    »Genau darum geht es.«
    »Sie haben mir eine Menge beigebracht«, sagte Jeremy.
    Der alte Mann antwortete nicht.
    »Warum all diese Umwege, Arthur?«
    »Ziemlich gute Frage, mein Freund.« Arthur nippte an seinem Tee, strich sich über den Bart, schob die Tasse beiseite. »Darauf gibt es mehr als eine Antwort. Zunächst einmal kann man sich im Stadium der Hypothese seiner Sache nicht sicher sein. Ich habe tatsächlich hinzugelernt. Zweitens hatte ich das Gefühl, ich müsste den Informationsfluss ein wenig regeln, um Sie nicht abzuschrecken. Geben Sie es zu, mein Sohn. Wenn ich alles vor Ihnen ausgebreitet hätte, hätten Sie mich für verrückt gehalten.« Er lächelte Jeremy an.
    Jeremy zuckte mit den Achseln.
    »Drittens – und das empfinden Sie vielleicht als Kränkung, Jeremy, obwohl ich viel von Ihnen halte und Ihnen nie etwas vormachen würde – muss man sich um bestimmte Dinge bemühen, um sie schätzen zu lernen.«
    »Ohne Fleiß kein Preis?«
    »Ein Klischee, aber trotzdem berechtigt.«
    »Wenn Sie mich mit Rätseln und Spielchen eingewiesen haben, war das nur zu meinem Besten.«
    »Genau«, sagte der alte Mann. »Perfekt formuliert.«
    Jeremy hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Er hatte sich gefragt, wie er reagieren würde. Seit dem Albtraum im Keller waren Wochen vergangen. Er dachte selten darüber nach, und der Schrecken war zu einem makabren Trickfilm verblasst.
    Interessanterweise hatte das späte Abendessen mit Arthur und seinen Freunden in Jeremys Erinnerung an Klarheit gewonnen – war realer geworden.
    »Nach dem Abendessen«, sagte er, »schienen Sie etwas auf Distanz zu gehen.«
    Arthur nickte. »Verzeihen Sie mir. Ich war … hin- und hergerissen. Ich wusste, was Ihnen bevorstand. Es gab mir zu denken.«
    Um manche Dinge muss man sich bemühen.
    Nachdem er Arthur nun die Frage gestellt und die Antwort bekommen hatte, konnte er nur noch lächeln.
    »Okay«, sagte er.
    »Das ist alles?«, erwiderte der alte Mann. »Reicht Ihnen das als Erklärung?«
    »In dieser Beziehung schon. Ich habe allerdings noch ein paar Fragen. Wo Sie doch versprochen haben, mir nichts vorzumachen.«
    »Na schön.«
    »Wurde der Mörder Ihrer Familie je gefunden? Auf die eine oder andere Weise?«
    Arthur traten Tränen in die Augen, und das war Antwort genug für Jeremy. Aber der alte Mann sagte: »Niemals.«
    »Hat es irgendwelche Verdächtigen gegeben?«
    »Einen«, sagte Arthur. »Einen Hilfsarbeiter aus der Gegend. Ein ziemlich verstörter Mann. Später fand ich heraus, dass er einige Zeit in einer Anstalt verbracht hat. Ich habe mir seinetwegen eine Zeit lang Gedanken gemacht, war mir sicher, gesehen zu haben, wie er meiner Frau lüsterne Blicke zuwarf.« Arthurs Stimme geriet ins Stocken. »Sie war
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