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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain
Autoren: Courtney Miller Santo
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schicken«, sagte Erin mit geschlossenen Lidern. Anna hatte den Verdacht, dass sie weinte. »Außerdem hab ich selbst nicht gewusst, dass ich nach Hause will, bis ich dann plötzlich hier war. Da war es schon zu spät für eine Ankündigung.«
    Bets strich ihr durchs Haar und flüsterte besänftigende Worte. Es war eine Szene, wie sie sich früher oft zugetragen hatte, als die kleine Erin zu ihnen nach Hill House ziehen musste, weil sie plötzlich beide Eltern verloren hatte. Anna lauschte Bets’ hypnotisierender Stimme; mit ihrem Singsang und dem einlullenden Sprechrhythmus besänftigte sie jeden Fluchtimpuls. Dann sah sie zu, wie ihre Tochter, alt genug, um selbst Hilfe zu brauchen, ihre Urenkelin behutsam auf ihr Zimmer führte. Bobo heftete sich an ihre Fersen.
    Anna zog die Schublade des Sekretärs auf, in der sie Erins Briefe aus Italien aufbewahrte. Es war eine Handvoll Luftpostbriefe mit diffusen Beschreibungen der Kollegen an der Oper, Anekdoten über Ausflüge ins Umland, und einmal hatte sie lang und breit darüber berichtet, wie sie fast ihre Notenblätter in einem Bus hätte liegen lassen. Sie fand auch das Informationsschreiben, in dem Erin die Bedingungen für ihre befristete Anstellung als Mezzosopranistin an der Musikakademie von Santa Cecilia erläutert worden waren.
    Callie und Bets kamen zurück ins Wohnzimmer und machten es sich auf der Couch gemütlich. Beide wirkten nach der lebhaften Unterhaltung mit Erin um Jahre verjüngt. Sie redeten leise miteinander, doch Anna gab sich keine Mühe, dem Gespräch zu folgen. Nur ungern gab sie zu, dass ihr Hörvermögen in letzter Zeit nachgelassen hatte. Sie suchte weiter nach dem Vertrag, den ihr Erin gezeigt hatte, nachdem Anna wissen wollte, wovon sie in Italien ihren Lebensunterhalt bestreiten wollte. Es gab zwar noch etwas Geld, von dem Erin nichts wusste. Es stammte aus einer Versicherungspolice, die nach dem Tod ihres Vaters fällig geworden war, und Anna hatte es zurückgehalten. Wenn die Zeit reif war, wollte sie es ihr geben. Endlich fand Anna, was sie suchte. Beim Auseinanderfalten des Dokuments stellte sie allerdings fest, dass es auf Italienisch verfasst war. Es brachte sie also keinen Schritt weiter.
    »Sie steckt in Schwierigkeiten«, sagte Bets, um Anna wieder ins Gespräch einzubeziehen.
    »Sie sieht ihrer Mutter im Augenblick unglaublich ähnlich«, meinte Callie. »Sollen wir im Auto nachschauen, ob wir einen Anhaltspunkt finden? Es muss doch irgendeinen Grund geben, warum sie hier aufgetaucht ist.«
    Bets nahm Anna das Schreiben aus der Hand und überflog es. »Du kannst das bestimmt lesen«, sagte sie dann zu ihrer Tochter. »Spanisch ist doch so ähnlich wie Italienisch, es sind ja beide romanische Sprachen, oder?«
    »Ja, aber grundverschiedene«, erwiderte Callie, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Eigentlich sollten wir ihr nicht hinterherspionieren. Sie wird uns schon alles erzählen, wenn sie so weit ist.«
    »Ihre Mutter hat uns auch nie etwas erzählt«, warf Bets ein und strich eine Strähne zurück, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte.
    Anna wusste, dass sie einschreiten musste. Die Gewissensbisse und die Scham über das, was mit Erins Mutter geschehen war, hatten einen Keil zwischen die beiden getrieben und belasteten ihre Beziehung seit Jahren.
    »Eine Frau darf ihre Geheimnisse haben«, sagte Anna und erinnerte sich daran, wie viel sie ihrer eigenen Mutter nicht erzählt hatte. Auch ihrer Tochter hatte sie manches verschwiegen, zum Beispiel den Verdacht, dass keine von ihnen die war, die sie zu sein glaubte.
    Bets stand auf und sammelte die Unterlagen wieder ein. Ihre Statur und das spitze, scharfkantige Kinn hatte sie von ihrem Vater, der allerdings stets einen Bart getragen hatte, sodass seine Züge weicher wirkten. Diese Möglichkeit hatte Bets nicht, weshalb sich viele Menschen von ihr angegriffen fühlten, wenn sie mit ihnen sprach. »Wenn wir damals Bescheid gewusst hätten, hätten wir etwas unternehmen können. Ich werde in dieser Familie keine schwelenden Geheimnisse mehr dulden, nur weil es bequemer ist, sich vorzumachen, die Privatsphäre sei heilig. Zum Teufel mit der Privatsphäre!«
    Anna hörte noch, wie die Haustür zuschlug, und danach knirschten Bets’ schwere Schritte auf dem Kies. »Sie wird bestimmt nichts finden«, sagte sie zu Callie. »Ich habe gesehen, dass Erin weinte, als sie aus dem Wagen stieg. Es gibt keine Spuren, kein Gepäck, noch nicht einmal ein zerknülltes Hamburgerpapier auf der
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