Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain
Autoren: Courtney Miller Santo
Vom Netzwerk:
Hälfte der Gäule zu Tode geschunden, die andere Hälfte hatte hinterher schwere Verletzungen. Ein Mann wurde platt gewalzt, als ein Haus über ihn drüberrollte«, erzählte er und spuckte Kautabak aus. »Das ist ganz anders, als man denkt. Der platzte nicht gleich, nee! Das kam erst später.«
    Sie sprachen über den Tod, und dass er wohl nie so war, wie man ihn sich vorstellte. Der Metzger schilderte, wie der Körper des platt gewalzten Mannes langsam anschwoll und die Haut an seinen Beinen aufplatzte wie die eines Pfirsichs, der zu lange am Baum hing. »Noch vor Sonnenuntergang war er tot«, schloss der Metzger. Einige der umstehenden Männer machten sich schnell fort und beschäftigten sich mit dem Pferdegeschirr. Ihr Vater aber legte dem Mann seine Hand auf die Schulter. Mit gerunzelter Stirn beobachtete Anna die Szene und erinnerte sich an die Worte der Mutter, die am Morgen noch zum Vater gesagt hatte, dass es manchmal keine einfachen Lösungen gab. Anna war zwar erst sechs, doch das Bild eines Mannes, dessen Haut platzte wie die einer überreifen Frucht, grub sich tief in ihr Gedächtnis, als hätte sie das Leiden des Mannes in dieser kleinen Stadt in Iowa tatsächlich selbst miterlebt.
    Sie folgte dem Vater auf seinem Rundgang durch die Gemeinde. Er notierte, wer für den Umzug bereit war. Sie blieb ihm zwar dicht auf den Fersen, versteckte sich aber, wenn er sich umsah, oder streichelte rasch ein am Wegrand angebundenes Pferd. Im Dorf roch es damals anders als heute, es lag Stroh auf den Straßen, um die Unebenheiten auszugleichen, und der Schweiß der Menschen vermischte sich mit dem der Tiere. Am Tag des Umzugs dampften die Pferde vor Anstrengung, und ihr süßlicher, schwerer Geruch überwältigte Anna. Sie sah, wie ihr Vater Zahlen auf die Häuser malte, um die Reihenfolge festzulegen. Zuletzt kam er zum Laden, markierte eine Seite mit einem langen weißen Kreidestrich und übergab den Kreidestummel dann den Männern auf dem Dach, die die Linie dort weiterzogen. Sie warfen ihm die Kreide zurück, und er markierte die beiden Hälften des Hauses mit unterschiedlichen Zahlen.
    Für ihren Bruder fühlte sich Anna nicht zuständig. Er war schon in Brisbane immer kränklich gewesen, weshalb er tun und lassen konnte, was er wollte. Oft beschwerte sich Anna, weil er im Haushalt nicht helfen musste, doch die Eltern sagten, dass Gott das Wunder seiner Genesung vielleicht wieder rückgängig machen würde, wenn sie ihn nicht in Ruhe ließen, gerade jetzt, wo er wieder gesund war. Manchmal wünschte sie ihm deshalb alles Übel der Welt an den Hals. Nun beobachtete sie, wie er aufs Dach des Ladens kletterte, um den Lindsey-Jungs beim Abbau des Schornsteins zu helfen. Insgeheim hoffte sie, er würde herunterfallen und sich ein Bein brechen.
    Auf den Straßen lagen glatte Baumstämme ohne Rinde, die aussahen wie die abgesägten Gebeine von Riesen. Die vielleicht zwei Dutzend Häuser waren umringt von Hausrat und Möbeln. Anna kehrte ihrem Vater den Rücken und machte sich einen Spaß daraus, in den leer geräumten, unbekannten Häusern herumzustreunen. Die lauten Geräusche von Metall auf Holz und die derben Flüche der schwer arbeitenden Männer erfüllten die Luft. Der heftige Wind blies ihr den süßen Geruch von frisch gesägtem Holz ins Gesicht. Sie war stolz auf ihr Dorf, das sich kühn gegen seinen Niedergang stemmte, nachdem es nicht ans Streckennetz der Southern Pacific Railroad angeschlossen worden war.
    Als Erstes sollte die Metzgerei versetzt werden, und alle arbeiteten mit. Bestimmt zwanzig Männer schoben von alle n Seiten dicke, lange Bretter unters Fundament, und vierzig weitere standen im Kreis um das Gebäude herum. Sie zählten bis drei, dann hebelten die Männer mit den Brettern das Haus hoch, und die anderen kamen schnell hinzu, um es zu halten, während die Baumstämme daruntergerollt wurden. In weniger als drei Minuten war der Metzgerladen abrollbereit. Anna verfolgte aufmerksam, wie die Wände mit Seilen gesichert und an jeder Seite sechs Pferde an die Baumstämme angeschirrt wurden. Alle Männer des Dorfes legten Hand an, um das Gebäude auf dem Weg zu seinem neuen Standort zu stabilisieren, dann zogen die Pferde los, um es an die zuvor ins Präriegras gebrannte Markierung zu versetzen. Anna lief zurück zu der Stelle, an der bis eben noch die Metzgerei gestanden hatte. Sie scharrte mit dem Fuß in der Erde zwischen verkrusteten Blutflecken und den Knochensplittern, die über die Jahre
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher