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Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)

Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)

Titel: Der Novize des Assassinen: Roman (German Edition)
Autoren: Nick Lake
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und ihm gezeigt hatte, wie er verhinderte, dass ihm die Ohren knackten, wenn er bis auf den Grund der Bucht tauchte. Tarō wappnete sich, kniete sich neben das Lager und küsste seinen Vater auf die Stirn. Er bat den Amida Buddha mit einem Gebet darum, die Seele seines Vaters aus den dunklen Tiefen heraufzufischen, in denen sie zu versinken drohte. »Komm zurück«, sagte er. »Du bist der einzige Vater, den ich habe.« Noch während er sprach, wurde ihm bewusst, wie kindisch und dumm das war.
    Tarōs Vater war älter als seine Mutter  – fast der älteste Mensch im ganzen Dorf. Doch Tarō erschien es grausam, dass seine Krankheit ihn in den Dämmerschlaf und das Vergessen hinabgezogen hatte, ehe Tarō und seine Mutter sich von ihm verabschieden konnten. Tarō hoffte jetzt nurmehr, dass sein Vater ihn erkennen würde  – noch ein einziges Mal  –, ehe er starb, und dass sie noch ein wenig miteinander sprechen konnten, bevor sein Schatten ins nächste Reich weiterzog.
    Tarō berührte die runzlige Hand seines Vaters  – kalt und hart  – und küsste ihn noch einmal auf die Stirn. Er fürchtete schon lange, dass er seinen Vater verlieren würde. Und nun hatte er das Gefühl, dass er auch seine Mutter jederzeit verlieren könnte  – sie hätte dort draußen bei dem alten Wrack ertrinken oder, schlimmer noch, von irgendeinem rachedurstigen Geist besessen werden können. Ein Schauer rieselte kalt durch seinen ganzen Körper. Er wusste nicht, was er tun würde, wenn ihm seine Eltern genommen würden.
    Tarō kehrte in den Wohnraum zurück und setzte sich. Seine Mutter reichte ihm eine Schüssel Reis.
    »Schläft er?«, fragte sie.
    Tarō nickte. Es war eine unsinnige Frage  – sein Vater schlief immer.
    Dann aßen sie schweigend, doch das warme Essen schien seiner Mutter gutzutun, denn sie stand mit einem Anflug ihrer alten Lebhaftigkeit auf und begann mit dem Abwasch.
    Jetzt kam sie ihm so stark vor wie immer. Ihr Gesicht war von den Jahren und dem erbarmungslosen Meerwasser gezeichnet, doch ihre Schönheit war noch in den blitzenden Augen und der hübschen ovalen Kinnlinie zu sehen. Sie lächelte und erstrahlte dabei wie von einem Licht im Inneren, das nur die gütigsten und weisesten Menschen besitzen. Sie deutete auf eine Schüssel Muscheln. »Ich habe auch ein paar Seeohren mit heraufgebracht. Die kann ich hoffentlich an den Händler verkaufen, falls er morgen kommt.«
    Tarō zeigte seinerseits auf die beiden Kaninchen, die er in der Ecke abgelegt hatte. Es war ihr kleines Ritual, einander die Ausbeute des Tages zu präsentieren. »Sie sind schön fett«, sagte er. »Müssen irgendwo frisches grünes Gras gefunden haben.«
    Seine Mutter nickte. »Dein Vater hat sich heute Nachmittag bewegt. Ich dachte, er würde vielleicht aufwachen, aber er hat nur vor sich hin genuschelt und ist wieder eingeschlafen.« Ihr Blick huschte zu dem Shōji-Wandschirm, der den Schlafbereich abteilte. Die ganze Hütte war nur sechs Tatami-Matten groß, und auf so engem Raum gab es kaum Privatsphäre.
    »Glaubst du, er wird sterben?«, fragte Tarō, und seine Stimme brach, als wäre die Last dieser Frage zu schwer.
    Tarōs Mutter blickte erschrocken auf. Sie antwortete mit kindlicher Heftigkeit: »Nein. Niemals. Er würde uns nie einfach so im Stich lassen. Das hat er noch nie getan.«
    Tarō blickte beschämt zu Boden. »Natürlich. Es ist nur … es tut weh. Das ist alles.«
    Seine Mutter sah ihn mit gütigem Blick an. »Ja. Aber was sage ich dir immer?«
    Tarō lächelte. »Ame futte ji katamaru.«
    Nach dem Regen wird die Erde hart. Leiden macht uns stark.
    Tarōs Mutter nickte, als sei die Angelegenheit damit erledigt, doch Tarō schürzte die Lippen. Er litt, und sein Vater ebenfalls. Aber daraus konnte nichts Gutes entstehen.
    Sein Vater würde nur sterben, und zwar bald. Tarō wusste es.
    Inzwischen war es draußen vollständig dunkel, und der Raum wurde nur vom Feuer und zwei Walfett-Kerzen trübe erleuchtet. Die Dorfbewohner töteten keine Landtiere, sondern lebten lieber von den Früchten des Meeres und vermieden es allgemein, zu töten, wie der Mitfühlende Buddha es die Menschen gelehrt hatte.
    Doch wenn ein Wal in der Bucht strandete, wurden sämtliche Männer, Frauen und Kinder zusammengetrommelt, um sich seine reichen Gaben zu holen: Fleisch, Knochen und Tran wurden gesammelt und genutzt.
    Tarō war noch nicht nach Schlafen zumute, also griff er nach seinem Bogen, strich mit der Hand über dessen glatte
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