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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
Autoren: Rick Yancey
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Insel des Blutes öffneten sich die mächtigen Arme der Berge vor uns, und wir erblickten die Ebene, die sich zum Meer hin erstreckte. Der Tag war hell und heiß und fast windstill, und ich sah mehrere prächtig gefärbte Eidechsen, die sich auf den Felsen sonnten. Ein Schmetterling flatterte auf Flügeln von schillerndem Blau vorbei. Der Monstrumologe wies mich auf ihn hin und sagte: »Schau ihn dir an! Meilenweit keine Blume – er muss sich verirrt haben.«
    Eine ungeschlachte Gestalt erschien unter uns zwischen den beiden Felsbrocken, die den Anfang des Pfades markierten. Zuerst schlug mein Herz höher. Das muss Awaale sein! , dachte ich. Ich beschleunigte meine Schritte; der Monstrumologe packte mich an der Schulter und zog mich zurück. Wir blieben stehen und beobachteten, wie die riesige Gestalt mühsam auf uns zuschlurfte. An ihrem mächtigen Körper hingen Lumpen herab; ihre Füße waren nackt und von den scharfkantigen Steinen aufgerissen und hinterließen blutige Abdrücke. Ihr gewaltiger Mund stand offen; ihre Augen waren schwarz und starr; ihre Hände waren groß und blutverkrustet. Aus ihrer breiten Stirn ragte ein Horn heraus. Wir hatten den Minotaur gefunden.
    Ich hob Kearns’ Gewehr. Neben mir gab der Monstrumologe einen leisen, protestierenden Laut von sich, legte die Hand auf den Lauf und drückte ihn herunter.
    Das Kind Typhoeus ’ hob den schweren Kopf, und sein Mundverzog sich zu einem Knurren gequälter Wut; der blutdurchsetzte Speichel des Pwdre ser schimmerte in der Vormittagssonne. Er wankte auf uns zu, zu schwach zum Laufen, und verlor den Halt. Er fiel hin. Mit einem Beben der enormen Schultern drückte er sich vom felsigen Untergrund hoch, indes Tränen von Pwdre ser über sein verwüstetes Gesicht strömten, und das Licht durchdrang das durchsichtige Fleisch, und ich konnte deutlich bis auf seine Knochen sehen. Er erhob sich, schwankte, fiel wieder hin. Er warf den Kopf in den Nacken; die schwarzen Augen betrachteten den ungetrübten Himmel und weinten.
    »›Suchet einen gefallenen Stern‹«, sagte der Monstrumologe, »›und Ihr werdet nur auf irgendeine stinkende Gallerte stoßen, die, beim Stürzen durch den Horizont, einen Moment lang einen Anschein von Herrlichkeit angenommen hat.‹«
    In seinen Augen glänzten Tränen des Mitleids. Beide weinten sie, das Monster und der Mann, der gefallene Stern und der ihn Suchende.
    Und wenn ich meinen Fuß auf die Gestade der Insel des Blutes setze, um die Fahne des Eroberers einzupflanzen, wenn ich den Gipfel des Abgrunds erreiche, wenn ich das Wesen finde, das wir alle fürchten und das wir alle suchen, wenn ich mich umdrehe, um dem Gesichtslosen ins Antlitz zu schauen, wessen Gesicht werde ich da sehen?
    Der Mann hob den Revolver auf die Augenhöhe des Monsters.
    * * *
    Wir fanden Gishub vor, wie wir es verlassen hatten, aufgegeben, eine Stadt der Toten. Jahre würden vergehen, bevor das Leben wieder Einzug hielt. Die Gefallenen würden verbrannt werden, ihre Asche der Erde wieder übergeben, aus der sie gekommen waren, die Häuser leer geräumt und gereinigt, und eine andere Generation würde sich aufs Meer begeben für die Ernte. Das Leben würde zurückkehren. Das tut es immer.
    Wir warteten auf Awaale. Ich zweifelte nicht daran, dass er kommen würde. Alle Namen bedeuten etwas, hatte er mir erzählt. Wir saßen im länger werdenden Schatten eines Drachenblutbaums, und die pralle Sonne wanderte zum Horizont, und die Luft war durchflutet von goldenem Licht. Das Licht tanzte auf dem Laub, das leise über meinem Kopf sang. Ich blickte den Abhang hinunter zum Meer und sah, balancierend auf dem Rand der Welt, ein Schiff mit tausend Segeln. Mein Vater hatte einen Weg gefunden, sein Versprechen zu halten, durch den ungewöhnlichsten Menschen.
    Der Arm dieses Menschen legte sich um meine Schulter. Seine Stimme sprach in mein Ohr.
    »Ich werde dich nie wieder verlassen, Will Henry. Ich werde dich nie im Stich lassen. Solange ich lebe, werde ich auf dich aufpassen. So wie du mich aus der Dunkelheit herausgebracht hast, so werde ich die Dunkelheit von dir fernhalten. Und wenn die Flut mich überwältigen sollte, werde ich dich auf meine Schultern heben; ich werde nicht zulassen, dass du ertrinkst.«
    Es war sein Moment des Triumphs. Der Moment, da er sich umgedreht und dem Ding ins Gesicht geblickt hatte, das wir alle fürchten und das wir alle suchen.
    Fast konnte ich sie hören, die Fahne des Eroberers, wie sie in der Brise knatterte.
    * *
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