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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Autoren: Rick Yancey
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sein, war nie festgenommen worden, hatte nie Militärdienst geleistet und hatte nie eine Anstellung gehabt, bei der von Gesetz wegen die Registrierung der Fingerabdrücke erforderlich war.
    Ich dachte, wenn diese ersten drei Notizbücher ein Werk der Fiktion waren – und angesichts des Inhalts mussten sie das wohl sein –, dann hatte sich der Autor in seinem dementen Zustand möglicherweise irgendwann so mit seinem Protagonisten identifiziert, dass er zu Will Henry wurde . Verrückten Schriftstellern sind schon merkwürdigere Dinge widerfahren.
    Den ganzen Sommer über war ich im Internet unterwegs, tätigte Anrufe, befragte jeden, der mir einfiel, der jenen einen speziellen Informationsbrocken haben könnte, jenen vordem unentdeckten Schlüssel, der die Wahrheit aus dem widerspenstigen Gefängnis der Vergangenheit befreien würde.
    Im späten September, während ich an meinem Schreibtisch saß und an einem weiteren schweren Fall von Schreibblockade litt, wanderte mein Auge zu den Tagebüchern. Impulsiv zog ich den vierten Band heraus und schlug eine wahllose Seite auf. Zu meiner Verwunderung rutschte ein Zeitungsausschnitt auf den Schreibtisch. * Mein Herz raste vor Aufregung, ich durchblätterte den gesamten Band, fand andere Papierschnipsel, die zwischen den Seiten steckten, als hätte das Notizbuch einem doppelten Zweck gedient, als Will Henrys Tagebuch und Sammelalbum.
    Im Lauf der nächsten drei Tage fand ich noch mehr Denkwürdigkeiten zwischen den Seiten der übrigen Notizbücher stecken. Ich fing einen neuen Ordner an, den ich mit der Aufschrift »Ausschnitte« versah, geordnet nach ihren Fundstellen in den Notizbüchern (mit anderen Worten, nach Bandnummer und Seitenzahl), mit Vermerken, die Möglichkeiten für weitere Nachforschungen umrissen. Während ich mich für die Authentizität von einigen davon verbürgen kann (die New-York-Times -Artikel beispielsweise), sind andere, wie die Visitenkarte Abram von Helrungs, noch auf Herz und Nieren zu prüfen. Ich kann nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, dass es sich bei ihnen nicht um Fälschungen oder Bestandteile irgendeiner äußerst schrägen kreativen Übung seitens des Autors der Tagebücher handelt.
    R.Y.
    Gainesville, Florida
    September 2009
    *   Abgedruckt in der Titelei dieses Buches

»Logik gebiert bisweilen Monster.«
    – Henri Poincaré



EINS
    »Was bin ich, Will Henry?«

    Ich wünsche mich nicht an diese Dinge zu erinnern.
    Ich wünsche sie los zu sein, ihn los zu sein. Vor fast einem Jahr habe ich die Feder niedergelegt und geschworen, dass ich sie nie wieder aufnehmen würde. Soll es mit mir sterben, dachte ich. Ich bin ein alter Mann. Ich schulde der Zukunft nichts.
    Bald werde ich einschlafen und aus diesem entsetzlichen Traum aufwachen. Die endlose Nacht wird hereinbrechen, und ich werde mich erheben.
    Ich sehne mich nach dieser Nacht. Ich fürchte sie nicht.
    Ich hatte genug Furcht. Ich habe zu lange in die Hölle gestarrt, und jetzt starrt die Hölle zu mir zurück.
    Zwischen dem Schlafen und dem Wachen ist es da.
    Zwischen dem Aufstehen und dem Hinlegen ist es da.
    Es ist immer da.
    Es nagt an meinem Herzen. Es kaut an meiner Seele.
    Ich drehe mich weg und sehe es. Ich verstopfe mir die Ohren und höre es. Ich decke mich zu und fühle es.
    Es gibt keine menschlichen Worte für das, was ich meine.
    Es ist die Sprache des kahlen Asts und des kalten Steins, geäußert im dumpfen Flüstern des grimmigen Winds und dem monotonen Tropf-Tropf des Regens. Es ist das Lied, das der fallende Schnee singt und das misstönende Lärmen von Sonnenlicht, das vom Blätterdach in Stücke gerissen und geizig herabsickern gelassen wird.
    Es ist, was das blinde Auge sieht. Es ist, was das taube Ohr hört.
    Es ist die romantische Ballade der Umarmung des Todes; die solenne Hymne von Gedärmen, die von blutigen Zähnen tropfen; die Wehklage des aufgedunsenen Leichnams, der in der Sonne verwest; und das anmutige Ballett von Maden, die sich in den Ruinen von Gottes Tempel winden.
    Hier in diesem grauen Land haben wir keinen Namen. Wir sind die Kadaver, die sich im gelben Auge widerspiegeln.
    Unsere Knochen werden in unserer Haut gebleicht; unsere leeren Augenhöhlen betrachten die hungrige Krähe.
    Hier in diesem Schattenland kratzen unsere blechernen Stimmen wie die Flügel einer Fliege an regungsloser Luft.
    Unser ist die Sprache von Imbezilen, das Geschnatter von Idioten. Die Wurzel und die Kletterpflanze haben mehr zu sagen als wir.
    Ich will
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