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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist
Autoren: Rick Yancey
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dirigierte mich zu einer freien Stelle auf dem Arbeitstisch. Er nahm die Schultern des Mädchens, ich die Beine, und gemeinsam bewegten wir ihre Leiche. Sie war so leicht, dass sie nicht mehr als ein Vogel zu wiegen schien. Er verschränkte ihr die Arme über der Brust und raffte das Hemd um ihren geschändeten Rumpf zusammen. »Hol mir ein sauberes Laken, Will Henry«, wies er mich an, und dann bedeckte er sie. Wir standen einen Moment lang vor der eingehüllten Gestalt, ohne dass einer von uns sprach.
    Schließlich seufzte er. »Nun ja, sie ist jetzt befreit davon. Falls hierin irgendeine Barmherzigkeit liegt, Will Henry, sie hat nicht gelitten. Sie hat nicht gelitten.«
    Er klatschte in die Hände und wandte sich ab, und als erwieder an den Untersuchungstisch schritt, voller Eifer, die Arbeit an der Kreatur fortzusetzen, war seine Schwermut im Nu verflogen. Wir zogen sie auf die Tischmitte und rollten sie auf den Rücken. Die schwarzen, lidlosen Augen auf ihren Schultern und der weit offen stehende, mit Reißzähnen vollgestopfte Rachen in ihrer Brust erinnerten mich mehr als alles andere an einen Hai. Auch ihre Haut war so bleich wie der Bauch eines Hais, und ich bemerkte, zum ersten Mal, dass das Ding völlig haarlos war, eine Tatsache, die seine albtraumhafte Erscheinung noch verstärkte.
    »Wie der Löwe sind auch sie nachtaktive Jäger«, sagte der Doktor, als hätte er irgendwie meine Gedanken gelesen. »Daher die übergroßen Augen und das völlige Fehlen von Melanin in der oberen Derma. Auch sind sie, ebenso wie Panthera leo  – und Canis lupus  –, Gemeinschaftsjäger.«
    »Gemeinschaftsjäger, Sir?«
    »Sie jagen in Rudeln.«
    Er schnippte mit den Fingern, verlangte ein frisches Skalpell, und nun begann die Nekropsie ernsthaft. Während er die Bestie zerstückelte, wurde ich auf Trab gehalten, indem ich das Diktat aufnahm, ihm die Instrumente reichte und vom Schrank zum Tisch und wieder zurück hastete und die leeren Probengläser mit Formaldehyd füllte, in das er die Organe fallen ließ. Ein Auge, von dessen Rückseite wie ein verdrehter Strick die Sehnerven baumelten, wurde herausgenommen. Er wies mich auf die Ohren des Monsters hin: fünf Zoll lange Schlitze, die sich auf beiden Seiten der Taille befanden, knapp oberhalb der Hüften.
    Dann öffnete Warthrop die Brust, ein Stückchen oberhalb des boshaft grinsenden Mauls, wobei er Rippenspreizer zu Hilfe nahm, um Platz für seine Hand zu schaffen und die Leber, die Milz, das Herz und die Lunge zu entnehmen, gräulich weiß und länglich wie nicht aufgepumpte Footballbälle. Die ganze Zeit über setzte er dabei seinen Vortrag fort und unterbrach sich nur gelegentlich, um Messdaten zu diktieren und den Zustand der verschiedenen Organe zu beschreiben.
    »Das Fehlen von Follikeln ist eigentümlich; es wird in der einschlägigen Literatur nicht erwähnt … Das Auge misst neun Komma sieben Zentimeter mal sieben Komma drei Zentimeter, was möglicherweise auf ihr natürliches Habitat zurückzuführen ist. Sie haben sich nicht in gemäßigten Breiten entwickelt.«
    Er nahm einen Einschnitt wenige Zoll oberhalb der Leistengegend des Monsters vor, tauchte mit beiden Händen in die Bauchhöhle ein und zog das Gehirn heraus. Es war kleiner als ich erwartet hatte, etwa so groß wie eine Apfelsine. Er legte es auf die Waage, und ich hielt das Gewicht in dem kleinen Notizbuch fest.
    Na ja , dachte ich. Zumindest das ist gut. Mit einem so kleinen Gehirn können sie nicht sehr schlau sein.
    Und wieder, als besäße er die Fähigkeit, meine Gedanken zu lesen, sagte er: »Vermutlich das geistige Fassungsvermögen eines Zweijährigen, Will Henry. Irgendwo zwischen einem Schimpansen und einem Gorilla. Zwar fehlt ihnen eine Zunge, doch können sie mittels Grunzen und Gebärden kommunizieren, ganz wie ihre Primatenverwandten, wenn auch mit weitaus weniger wohlwollenden Absichten.«
    Ich unterdrückte ein Gähnen. Ich war nicht gelangweilt; ich war erschöpft. Die Sonne war schon längst aufgegangen, aber in diesem fensterlosen Raum, der nach ätzenden Chemikalien und Tod stank, herrschte ewige Nacht.
    Der Doktor hingegen ließ keine Anzeichen von Ermüdung erkennen. Ich hatte ihn schon früher so erlebt, wenn ihn das Fieber seiner sonderbaren Leidenschaft befiel. Er aß dann sehr wenig, schlief noch weniger; seine ganze Konzentrationsfähigkeit, die so überwältigend wie bei keinem anderen Menschen war, dem ich je begegnet bin, war auf die vor ihm liegende Aufgabe
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