Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
der clues zerriss, fuhr er nachts in seinem Bett hoch, die Schläfen nass von Schweiß. Die See stürzte sich auf ihn, um durch alle möglichen Mittel seine Angstvorstellungen zu schüren. Er hasste sie wie ein Kenner, wie ein Mann, der weiß, was hassen bedeutet.
    Manchmal, wenn er die Karten mischte, vergaß er auszuteilen. Seine Zwangsvorstellungen kamen über ihn wie die steigende Flut. Dann erzählte er nicht. Auf einen Schlag, ohne Vorwarnung, stieß er in Worten aus, was in ihm steckte, indem er die Seiten einer ununterbrochenen Geschichte, die er in sich selbst schrieb, umblätterte, ohne Luft zu holen, eine Geschichte, die sich nur manchmal durch das Wort offenbarte.
    »Und dann …«, sagte er.
    Und die drei anderen hörten ihm mit offenem Mund zu.
    »Und dann … Um die See, den Orkan zu beruhigen, kurz nachdem wir sein Auge passiert hatten, mit Hilfe von Fässern voller Öl. Das war unsere Ladung. Ich goss dieses Öl durch das Loch der Latrine. Ich habe vielleicht tausend Tonnen davon ausgegossen! Das Deck, eine Wüste! Kein Mast, keine Antenne, kein Schornstein, keine Reling mehr! Die See unmittelbar vor den Augen! Oder dreißig Meter über uns … Das verbogene Ruder reichte gerade noch, um zu verhindern, dass wir uns querschiff legten. Drei Tage und drei Nächte lang. Und ihr denkt, das wäre nichts, die See!«
    »Also, Horace!«, schalt Monsieur Régulus ihn, »Sie übertreiben!«
    »Ihr werdet schon sehen! Sie wird euch auffressen! Sie hat schon damit begonnen … Euer Blayeul, eure montagne de Chine, und sogar der Gipfel eures Estrop! Maulwurfshügel! Das alles wird sie im Nu verschlingen! Sie ist eine ausgehungerte, zuckende Möse. Mit ihrer Geilheit wird sie euch das ganze Land platt machen! Da geht sie drüber, über alles. Drachenseelen werdet ihr haben, wie Leviathan! Ihr werdet schon sehen, ihr werdet schon sehen … Ich habe vierzig Jahre mit ihr zusammen gelebt. Wenn ich euch doch sage, dass sie eine Hure ist …«
    Das waren also die Mitspieler, die Monsieur Alcide Régu lus aufgetrieben hatte, um die Winterabende auszufüllen. (Im Sommer widmete er sich der Gartenarbeit.) Menschen, die sich nach Barles zurückgezogen hatten, um dort unauffällig zu leben. Beide durchaus zuverlässige Leute mit urbanen Umgangsformen, die immer den Hut zogen, freundlich auf ihre Art und Weise, trotz ihrer leichenhaften Kälte. Falls sie früher etwas zu vertuschen gehabt hatten, so sah man es ihnen nicht an.
    Es fehlte ein Vierter zum Kartenspiel – zur belote. All die wortkargen Eselhirten, all die argwöhnischen Ziegenhüter und all die umsichtigen Magier mit ihren gepflegten Gärten – also wir alle – hatten ausweichend auf die Einladungen des Volksschullehrers geantwortet, sodass er sich wohl oder übel mit Emile Pencenat hatte zufrieden geben müssen, der zögernd akzeptiert hatte.
    Abgesehen davon, dass er sein Grab schaufelte, gab es bei diesem Pencenat keinerlei Geschichten, keine See, die ihm im Nacken saß, kein mysteriöses Einkommen, das ihm von jenseits der großen Wälder zugeflossen wäre, keinen kleinen Schlüssel, der an der Uhrkette hing.
    An jenem Abend entschuldigte er sich unbeholfen für seine Verspätung, was die anderen murrend annahmen, bevor sie ihm schlaffe Lappen anstelle von Händen entgegenstreckten.
    »Sie verstehen doch wohl«, sagte er, »dass ich in meinem Loch nicht merke, wie die Zeit vergeht.«
    »Ersparen Sie uns die Details, Emile, ich bitte Sie!«, stöhnte Monsieur Fondère.
    »Entschuldigen Sie bitte, Monsieur Fondère, und Sie auch, Monsieur Combaluzier.«
    Wenn er zwischen diesen beiden Herrschaften eingeklemmt saß, kuschte Pencenat. Ein kaltes, schlecht gebändigtes Grauen schlich über seine Zehen. Im allgemeinen Durcheinander des Aufbruchs nach dem Spiel vermied er es sorgfältig, die Männer auch nur leicht zu berühren. Der Volksschullehrer – ja, sogar er – versetzte ihm einen gewaltigen Bammel. Er fühlte ganz genau, wie ein Hase den Jäger spürt, dass er es hier mit organisierten und wachsamen Köpfen zu tun hatte, wohingegen der seine immer träge blieb und nichts hervorbrachte.
    Sie ihrerseits schienen zu denken, dass er, unnütz wie er war, sich schon längst freiwillig in seinem Grab hätte zur Ruhe legen und dabei in Kauf nehmen sollen, irgendeinen Tagelöhner dafür zu bezahlen, dass er die ganze Erde, die er ausgehoben hatte, wieder über ihn schaufele.
    »He, Emile! Woran denken Sie? Ich habe gerade mit Karo bedient, und Sie legen jetzt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher