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Der Mönch und die Jüdin

Der Mönch und die Jüdin

Titel: Der Mönch und die Jüdin
Autoren: Thomas Görden
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befestigt, welche man dem Bären durch Nase und Lefzen gezogen hatte. Der Bär schrie und wollte davonlaufen, doch der Bärenbändiger zerrte am Nasenring des Tieres. Der Schmerz in seiner Nase zwang den Bären, sich auf die Hinterbeine aufzurichten. Der zweite Mann nahm eine lange, dicke Flöte und stimmte darauf eine scheußlich quäkende Musik an, zu der er den Oberkörper im Takt wiegte. Sobald die Musik einsetzte, fing der Bär an zu tanzen.
    Hannah wusste, dass dies nicht etwa aus Vergnügen an der Musik geschah, sondern aus Angst vor Schmerzen. Joseph hatte ihr, als sie zum ersten Mal einen Tanzbären gesehen hatte, erklärt, wie diese Tiere dressiert wurden: Man fing junge Bären in den Wäldern und zwang sie immer wieder, über im Feuer erhitzte Eisenplatten zu laufen, so dass die Tiere vor Schmerz hüpften und sprangen. Dazu wurde ihnen jedes Mal Musik vorgespielt. Das wurde so oft wiederholt, bis der Bär schließlich aus Angst vor dem Schmerz schon zu tanzen anfing, wenn er nur die Musik hörte. Die glühend heiße Eisenplatte brauchte der Tierbändiger dann nicht mehr.
    Die Zuschauer lachten, johlten und klatschten. Bären galten als böse Kreaturen, und niemand schien etwas dabei zu finden, wenn ihnen Leid zugefügt wurde. Die heidnischen Kelten und Germanen, die schon im Rheinland gelebt hatten, lange bevor die ersten Römer und später die Juden hierherkamen, hatten den wilden Tieren stets große Achtung entgegengebracht, das wusste Hannah von ihrem Vater. Der Bär war für sie ein besonders heiliges, göttliches Tier gewesen. »Sie glaubten, dass man großes Unheil heraufbeschwor, wenn man einen Bären tötete oder einfing«, hatte Joseph ihr erzählt. »Bären galten ihnen als Hüter der Weisheit. Wer weiß, vielleicht werden wir heutigen Menschen einmal einen hohen Preis für das bezahlen, was wir den armen, wehrlosen Tieren antun.«
    Eines Tages wollte Hannah auf große Fahrt gehen. Sie wollte durch unberührte Wälder reiten und hohe, schneebedeckte Berge sehen. Vielleicht werde ich reich und mächtig sein und auf meiner Reise bewaffnete Männer bei mir haben, die mich beschützen, dachte sie. Wenn ich dann einen wilden Bären sehe, werde ich mich an dem Anblick freuen und ihn seines Weges ziehen lassen. Niemals würde ich dulden, dass man den Bären fängt oder tötet. Er soll unbehelligt als König der Wälder leben dürfen.
    Mit Tränen in den Augen wandte sie sich von dem unwürdigen Schauspiel ab und ging nach Hause. Vorhin noch, als sie bei Kapitän Helmbrecht auf dem Deck seines stolzen Schiffes gestanden hatte, war ihr das jüdische Viertel eng erschienen, zu begrenzt für ihre Träume. Jetzt war sie erleichtert, als die vertrauten Gassen vor ihr auftauchten. Aber dennoch konnte sie nicht vergessen, was die beiden Kaufleute am Hafen über diesen Radulf erzählt hatten. Sie spürte eine beklemmende Angst in ihrer Brust. Als sie an den jüdischen Werkstätten und Kontoren vorbeiging, versuchte sie in den Gesichtern der Menschen zu lesen, ob ihre eigene Furcht sich nicht darin spiegelte. War es nicht so, dass die Leute bedrückt wirkten, als braue sich Unheil über ihren Köpfen zusammen? Oder bildete sie sich das nur ein?
    Hannah wusste, dass die Vorväter ihrer Familie seit über achthundert Jahren in Köln gelebt hatten. Schon als das römische Imperium noch von einem heidnischen, Götzen anbetenden Kaiser regiert worden war, hatten sich die ersten Juden hier niedergelassen, wie fast überall in Europa. Die Familie des Joseph ben Yehiel war in der Kölner Judengemeinde hochangesehen, und Hannah wurde oft gegrüßt. Alles wirkte so friedlich und fröhlich. Sie sah die Handwerker und Kaufleute ihrer Arbeit nachgehen, Hausfrauen mit Einkaufskörben in den Gassen zusammenstehen und Nachbarschaftsklatsch austauschen. Auf dem Platz vor der Synagoge spielten Kinder.
    Aber in Gedanken sah Hannah auch eine brüllende, Knüppel und Fackeln schwingende Menge, die über das alles hereinbrach wie eine Springflut. Ihre Eltern hatten ihr davon erzählt. Die Mutter ihres Vaters hatte ihr davon erzählt. Der Vater ihres Vaters hatte ihr nichts mehr erzählen können, denn er war unter den Opfern gewesen, erschlagen von der hasserfüllten Menge, die damals, vor fünfzig Jahren, sein Haus in Brand gesetzt hatte.
    Hannah erreichte den Hof ihres Elternhauses und blieb einen Augenblick davor stehen. Es war ein stolzes Haus, das ihr Vater für sich und seine Familie hatte bauen lassen, ein Haus, das Josephs
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