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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit
Autoren: W. Somerset Maugham
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sie sich zurechtgelegt hatte.
    »Fragst du nicht, wie es deiner Mama geht?«, brachte sie endlich hervor.
    »Ach, das habe ich ganz vergessen. Wie geht es ihr?«
    Nun war sie bereit. »Deiner Mama geht es sehr gut.«
    »Ach, wie schön.«
    »Deine Mama ist weggegangen. Du wirst sie nie mehr sehen.«
    Philip wusste nicht, was das bedeuten sollte.
    »Warum denn nicht?«
    »Deine Mama ist im Himmel.«
    Sie fing an zu weinen, und obwohl Philip nicht genau begriff, was geschehen war, weinte auch er. Emma war eine große grobknochige Frau mit hellem Haar und breiten Zügen. Sie kam aus Devonshire und hatte trotz vieler Dienstjahre in London ihren heimatlichen Akzent nie ganz abgelegt. Ihre Ergriffenheit wuchs mit ihren Tränen, und sie presste den Knaben an ihr Herz. Dunkel empfand sie, wie bemitleidenswert dieses Kind war, dem das Schicksal die einzige wirklich selbstlose Liebe, die es auf dieser Welt gibt, entzogen hatte. Es erschien ihr schrecklich, dass der Kleine nun fremden Menschen überlassen werden sollte. Aber nach einer Weile fasste sie sich.
    »Dein Onkel William wartet auf dich«, sagte sie. »Verabschiede dich von Miss Watkin, und dann gehen wir nach Hause.«
    »Ich will mich nicht verabschieden«, antwortete der Junge, eifrig bemüht, seine Tränen zu verbergen.
    »Schön, dann lauf hinauf und hol dir deinen Hut.«
    Er holte ihn, und als er herunterkam, wartete Emma in der Eingangshalle auf ihn. Er hörte Stimmen in der Bibliothek hinter dem Speisezimmer. Er hielt inne. Er wusste, dass Miss Watkin und ihre Schwester sich mit Bekannten unterhielten, und er vermutete – er war neun Jahre alt –, sie würden ihn bemitleiden, wenn er jetzt hineinginge.
    »Ich werde hineingehen und Miss Watkin auf Wiedersehen sagen.«
    »Das ist recht«, sagte Emma.
    »Sag ihnen, dass ich komme«, sagte er.
    Er wollte die Situation auskosten. Emma klopfte an die Tür und trat ein. Er hörte sie sprechen.
    »Master Philip möchte sich von Ihnen verabschieden, gnädiges Fräulein.«
    Das Gespräch verstummte jäh, und Philip hinkte hinein.
    Henrietta Watkin war eine korpulente Dame mit rotem Gesicht und gefärbtem Haar. Sich in jenen Tagen das Haar zu färben gab Anlass zu Bemerkungen. Philip hatte zu Hause so manches Gerede mit angehört, als seine Patin ihre Haarfarbe geändert hatte. Sie lebte mit einer älteren Schwester zusammen, die sich längst damit abgefunden hatte, zu den Alten zu gehören. Zwei Damen, die Philip nicht kannte, waren zu Besuch da und schauten ihn neugierig an.
    »Mein armes Kind«, sagte Miss Watkin und öffnete die Arme.
    Sie fing zu weinen an. Philip begriff nun, warum sie nicht zum Mittagessen erschienen war und warum sie ein schwarzes Kleid trug. Sie konnte nicht sprechen.
    »Ich muss nach Hause gehen«, sagte Philip endlich.
    Er löste sich aus Miss Watkins Armen, und sie küsste ihn noch einmal. Dann ging er zu ihrer Schwester und verabschiedete sich auch von ihr. Eine der fremden Damen fragte, ob sie ihm einen Kuss geben dürfe, und er erteilte ihr ernst die Erlaubnis. Obwohl er weinte, genoss er lebhaft das Aufsehen, das er erregte; er wäre gern noch länger geblieben, um es noch etwas auszukosten, aber er fühlte, dass es an der Zeit war zu gehen, und sagte deshalb, dass Emma auf ihn warte. Er verließ das Zimmer. Emma hatte sich hinunterbegeben, um sich mit einer Freundin in der Küche zu unterhalten, und er wartete im Treppenflur auf sie. Er hörte Henrietta Watkins Stimme.
    »Seine Mutter war meine beste Freundin. Der Gedanke, dass sie tot ist, ist mir unerträglich.«
    »Du hättest nicht zur Beerdigung gehen sollen, Henrietta«, sagte ihre Schwester. »Ich wusste, es würde dich aufregen.«
    Dann sprach eine von den Fremden.
    »Der arme kleine Junge. Wie schrecklich, so ganz allein in der Welt zu sein! Ich sehe, dass er hinkt.«
    »Ja, er hat einen Klumpfuß. Das war ein großer Kummer für seine Mutter.«
    Dann kam Emma zurück. Sie winkte eine Droschke heran und sagte dem Kutscher, wohin er fahren sollte.
    3
     
    Als sie das Haus erreichten, in dem Mrs.   Carey gestorben war – es lag in einer tristen, ehrbaren Straße zwischen Notting Hill Gate und High Street, Kensington –, führte Emma Philip ins Empfangszimmer. Sein Onkel schrieb Dankesbriefe für die Blumenspenden. Ein verspätet eingetroffener Kranz lag in seinem Pappkarton auf dem Vorzimmertisch.
    »Da ist Master Philip«, sagte Emma.
    Mr.   Carey stand schwerfällig auf und reichte dem kleinen Jungen die Hand. Dann besann
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