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Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Titel: Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
Autoren: Sloan Wilson
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Gebüsch umstanden war, und fuhr die Einfahrt weiter. Sie führte ihn ganz hinauf auf den Hügel, auf dessen höchstem Punkt die Villa selbst stand, ein hoher viktorianischer Bau mit einem Turm am einen Ende, der so gestaltet war, dass er noch größer und prächtiger erschien, als er tatsächlich war. Der Wind, der dort fast immer wehte, schien voller Stimmen.
    »Das ist ein Zwergenschloss«, hatte seine Mutter, wie er sich erinnerte, ein Jahr vor ihrem Tod an einer Lungenentzündung gesagt, da war er fünfzehn gewesen. »Als dein Vater mich zum ersten Mal hierherbrachte, noch vor unserer Verlobung, scherzte er über Zwerge in Rüstungen hinter den Zinnen auf dem Turm …«
    »Hier, die ist für dich!«, erinnerte er sich an eine andere Stimme, die seiner Großmutter. Sie hatte ihm dabei eine schön polierte, altmodische, dickbäuchige Mandoline hingehalten – da dürfte er nicht älter als zehn oder zwölf Jahre gewesen sein. »Auf der hat mal dein Vater gespielt«, hatte sie gesagt. »Vielleicht möchtest du es ja auch lernen.«
    Da oben auf dem Hügel hielt Tom nun an. Von dort hatte man einen atemberaubenden Blick auf den Long Island Sund, dessen gleißendes Wasser von Wolkenschatten gesprenkelt war. Das Gras zu beiden Seiten des Fahrwegs war hochgewachsen. Bei seinem Anblick erinnerte sich Tom an die Zeiten, als er so sorgfältig gepflegt war wie ein Golfplatz, und da empfand er den ersten Stich des aufsteigenden Ärgers, den er bei jedem Besuch dort fürchtete, die Wut über die Weigerung seiner Großmutter, das Anwesen zu verkaufen, und ihre ruhige Bereitschaft, das wenige noch verbliebene Geld, das sie von ihrem Mann und ihrem Vater geerbt hatte, hineinzustecken.
    »Ich liebe dieses Haus, und ich behalte es so lange, wie ich die Steuern dafür bezahlen kann«, hatte sie gesagt, als Tom kurz nach Kriegsende gemeint hatte, sie könne doch umziehen.
    Er ließ den Wagen vor der Haustür stehen. Edward, ein hochgewachsener alter Mann, der ihr vor langer Zeit als Butler gedient hatte und jetzt als Mädchen für alles fungierte, ließ ihn ein. »Guten Morgen, Mr Rath«, sagte er ehrerbietig. »Mrs Rath erwartet Sie im Wintergarten.«
    Tom fand seine Großmutter, in einen langen weißen Morgenmantel gehüllt, in einem Sessel vor. In einer Hand hielt sie einen knorrigen schwarzen Walnussstock, der fast wie eine Verlängerung ihrer welken Finger wirkte. Sie war dreiundneunzig Jahre alt.
    »Tommy!«, sagte sie, als sie ihn sah, und beugte sich begierig auf ihrem Sessel vor.
    »Bleib sitzen, Großmutter«, sagte er. »Schön, dich zu sehen.«
    Die alte Dame spähte ihn durchdringend an. Er war schockiert, wie sehr sie während der vergangenen zwei Monate gealtert war, vielleicht war es auch nur so, dass er sie beharrlich als jüngere Frau in Erinnerung hatte und nun jedes Mal, wenn er sie sah, überrascht war. Und sie wiederum war schockiert, Tom zu sehen, den sie als kleinen Jungen in Erinnerung hatte. Sie starrte ihn weiterhin an, die alten Augen hell und entwaffnend freundlich.
    »Du siehst müde aus, Tommy«, sagte sie auf einmal.
    »Mir geht’s gut.«
    »Du wirst ein wenig füllig«, sagte sie unverblümt.
    »Ich werde eben älter, Großmutter.«
    »Du solltest mehr ausreiten«, sagte sie. »Der Senator hat immer gesagt, Reiten ist die beste Übung. Er ist fast jeden Morgen eine Stunde geritten.«
    Da war sie wieder, ihre schreckliche Projektion der Vergangenheit in die Gegenwart, was weniger eine passive Ergebung in die Senilität war als vielmehr eine bewusste Weigerung, sich dem Wandel zu stellen. Und dann war da auch wieder ihr ausgefeilter Mythos der Leistungen der Raths. »Der Senator«, so nannte sie immer ihren toten Mann, Toms Großvater, der in seiner frühen Jugend eine Wahlperiode lang in Hartford Staatssenator gewesen war und den Großteil seines weiteren Lebens rein gar nichts mehr getan hatte.
    »Ich würde mich gern mit dir über ein paar Dinge unterhalten«, sagte Tom in dem Versuch, das Thema zu wechseln.
    »Du darfst aber nicht korpulent werden«, fuhr die alte Dame unerbittlich fort. »Dein Vater ist auch nicht korpulent geworden. Stephen war immer schlank.«
    »Ja, Großmutter«, sagte er. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sie ganz bewusst auf schmerzlichen Dingen herumritt, denn sie redete immer gern mit ihm über seinen Vater, präsentierte ihn als die Karikatur eines Helden, schmückte ihn mit allen möglichen verdrehten Fakten aus, zwischen denen versteckt Tom häufig für ihn
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