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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London
Autoren: Georges Simenon
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oder ob jemand den Vorgang mitbekommen und geredet hatte.
    Es war undenkbar, daß der Mann da unten nicht an all das dachte. Und statt Dieppe mit dem nächsten Zug oder dem nächsten Schiff zu verlassen, blieb er hier mit der Miene eines Menschen, der verzweifelt nach einem Ausweg sucht.
    Am Morgen schon hatte er nach einem Ausweg gesucht, als er begehrlich zu Baptiste hingesehen hatte, der mit seinem Boot im Hafenbecken herumgefahren war. Bereits da hatte Maloin das sichere Gefühl gehabt, der Clown sei nicht zum letztenmal hier aufgetaucht. Aber jetzt lief es Maloin kalt den Rücken hinunter, während er die verbissenen Anstrengungen des Engländers in dieser Nebelnacht beobachtete. Konnte der andere überhaupt schwimmen?
    »Verdammt nötig scheint er das Ding zu haben«, brummte Maloin.
    Eigentlich hätte er sich über die Sache lustig machen oder wenigstens schadenfroh vor sich hinlächeln können, da das Geld ja in seinem Schrank lag. Tatsächlich aber nahm die Angelegenheit ihn mit. Es brachte ihn in Rage, mitanzuhören, wie der Clown den Grund mit seinem lächerlichen Bootsanker absuchte. Und wenn er statt des nichtvorhandenen Koffers womöglich die Leiche hochzog? Na, schönen Dank …!
    Oder … Sollte er womöglich noch nicht mal das nötige Geld haben, um Dieppe zu verlassen? Vielleicht mußte er das Geld auch einem anderen abliefern?
    Es war die erste Nacht, in der Maloin vergaß, seine Pfeife zu rauchen. Vom Moulin-Rouge her klangen Stimmen herüber, und er erkannte die von Camélia. Die Bar wurde geschlossen, die Läden heruntergelassen. Als letztes drangen die Schritte des Kellners zu Maloin herüber, der auf der anderen Seite des Hafens wohnte, nicht weit von Maloin entfernt.
    Mitanzuhören, wie eine Ratte stundenlang in der Wand am Balkenwerk nagt, ist schon nervtötend. Aber mitanhören zu müssen, wie ein Mensch am Wasser nagt, und am Nebel! Und zu wissen, daß es aussichtslos ist, daß er nichts finden wird! Und sich dabei seine komische, vor Verzweiflung ganz spitze Nase vorzustellen!
    Maloin hätte sich sagen können, daß es dem anderen recht geschah. Aber das kam ihm gar nicht in den Sinn. Er wurde sogar immer nervöser.
    Irgendwann holte er den Schlüssel zu seinem Spind aus der Tasche, schloß den Schrank auf und stellte den Koffer auf den Tisch. Er war trocken, aber die Feuchtigkeit hatte Ränder hinterlassen, die an die Konturen auf einer Landkarte erinnerten. Auch auf den einzelnen Scheinen waren schmutziggelbe wolkenartige Gebilde. Und von draußen kam immer noch das Geräusch der Ruderschläge.
    »Fang auf!« hätte er dem da draußen am liebsten zugerufen und ihm einen Packen Scheine zugeworfen. Vielleicht wäre ihm damit schon geholfen gewesen.
    »Unmöglich«, seufzte Maloin und machte den Koffer wieder zu.
    Er hätte den Schlüssel beinahe auf dem Tisch liegen lassen und wurde blaß, als er es merkte. Es wurde ihm klar, daß ihm eine Kleinigkeit zum Verhängnis werden konnte: ein Versehen, ein Zufall, eine Ungeschicklichkeit … Zum Beispiel hätte sein Kollege den Schlüssel finden und auf den Gedanken kommen können, Maloins Schnaps auszuprobieren. »Der von Maloin ist vielleicht besser als meiner«, hätte er sich gesagt.
    Maloin hatte den Dreh selbst schon ausprobiert. Er hatte aus der Flasche der Kollegen getrunken und die fehlende Menge mit Wasser aufgefüllt.
    Bei dem Gedanken an Wasser stellte Maloin sich die Hände des Mannes vor. Er tauchte sie immer wieder ins kalte Wasser, und sie mußten blau sein vor Kälte. Und es war offensichtlich, daß der Mann aus London größeren körperlichen Anstrengungen nicht gewachsen war, trotz der Art und Weise, in der er seinem Partner den Fausthieb versetzt hatte.
    War er bereits mit dem Vorsatz aus London hergekommen, seinen Partner ins Wasser zu stoßen? Oder hatten sie eine Auseinandersetzung gehabt, während sie im Moulin-Rouge saßen und tranken?
    Das Zermürbendste von allem war das Geräusch des Ankers, der alle zwei bis drei Minuten heraufgezogen und hinabgelassen wurde. Inzwischen waren es bestimmt schon ein paar hundert Mal gewesen! Und über alledem das Tuten des Nebelhorns, das ebenfalls seinen eigenen, alles übertönenden und entnervenden Rhythmus hatte. So entnervend, daß das Quietschen des Krans die reinste Unterhaltungsmusik war dagegen.
    Um vier Uhr früh war Maloin soweit, daß er die Hälfte seiner Scheine geopfert hätte, um das Boot verschwinden zu sehen. Als er aber um viertel nach vier Rudergeräusche hörte und
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