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Der Mann auf dem Einhorn

Der Mann auf dem Einhorn

Titel: Der Mann auf dem Einhorn
Autoren: Hans Kneifel
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größerer und ein kleinerer. Sie kamen rasch näher, und zwar auf das Hafentor zu, von Süden herangaloppierend und laufend. Das Einhorn hatte unfassbare Kräfte, denn es sprengte durch den stellenweise tiefen Schnee, als gebe es ihn nicht. Auch der Wolf, der neben dem Reiter trabte, wurde vom Schnee nicht in seinen Bewegungen behindert.
    »Halt die Speere bereit!« zischte der Posten seinem Kameraden zu und trat an die Brüstung.
    »Geister und Dämonen sind mit unseren Waffen nicht zu töten«, gab der andere zurück.
    »Aber wenn es kein Geist ist?«
    Der schaurige Schrei des großen Wolfes schnitt seine Worte ab. Echos zitterten über Nyrngor dahin. Für die Stadtbewohner war es ein Zeichen, dass die Freiheit nicht mehr fern war, für die Caer bedeutete es Kampf und die Konfrontation mit Mächten, über die sonst nur ein Zauberpriester des Herzogtums verfügte. Die Posten packten ihre Speere fester, als der Ruf des Falken ertönte.
    In gestrecktem Galopp kam der Reiter näher. In der rechten Hand trug er drei kurze Wurfspeere, deren Blätter im Fackellicht golden aufblitzten. Das schwarze Einhorn, dessen Fell glänzte, hatte eine breite und tiefe Spur durch den aufstiebenden Schnee gezogen, eine schmalere stammte vom Wolf, der unaufhörlich sein schauerliches Heulen in die kalte Luft schickte.
    Flügelschlagend und in kurzen Abständen seinen durchdringenden Jagdruf aufstoßend, schwebte der weiße Falke über Reiter und Wolf.
    So kamen sie heran, näherten sich dem offenen Hafentor, und die Caer-Wachen stürzten zu dem provisorischen Wall aus Steinquadern und Eisplatten, der jetzt das Tor bis auf eine schmale Passage verschloss .
    Genau unter dem Torturm bäumte sich das Einhorn auf. Ein Hagel Pfeile schoss unter dem Torbogen hervor, aber keiner von ihnen traf. Entweder lenkte sie eine Zauberkraft ab, oder sie waren in der Kälte schlecht gezielt gewesen. Hester bog seinen Arm zurück und schleuderte, während das Einhorn wieder auf die Vorderbeine zurückfiel, einen Speer durch die treibenden Schneeflocken.
    Auch den halb blinden Jungen schien eine ungeahnte Kraft zu erfüllen. Die Flugbahn des Speeres war absolut gerade.
    Ein ächzender Schrei hallte durch das Gemäuer. Ein Posten, dem der Speer durch die Pelze und die Rüstung gedrungen war, taumelte rückwärts und brach zusammen. Blut färbte den Schnee rot.
    Auf dem Turm über dem Torbogen spannte der Caer-Posten seinen Bogen. Er fixierte das Ziel. Während der Wolf mit glühenden Augen die Umgebung musterte und durchdringend heulte, galoppierte Hester weiter und hielt sich an der flatternden Mähne des Einhorns fest. Zum erstenmal sah der Posten, der den Pfeil auf die Brust des Reiters richtete, das Horn auf der Stirn des Tieres, das bis auf diesen Unterschied die Körpergestalt eines starken Rapphengstes hatte.
    Er löste die Sehne: Heulend flog der Pfeil abwärts. Der Caer hätte geschworen, dass er gut genug gezielt hatte, um wenigstens den Reiter zu verletzen. Aber eine unwirkliche Kraft schien den Pfeil schon nach dem Verlassen der Sehne in die falsche Richtung zu lenken. Er ging neben dem Falken wirkungslos durch die Luft.
    Der Reiter, halb in seinen flatternden Mantel gehüllt, hob den Arm und schüttelte ihn drohend mitsamt den beiden Speeren gegen den Turm.
    Dann wieherte das Einhorn grell auf. Die Caer zuckten zusammen und starrten nach unten, wo Hester und das Einhorn wieder die Richtung änderten und entlang der Mauer nach Norden galoppierten. Sie verschwanden für die Soldaten auf dem Hafentorturm nach wenigen Augenblicken in dem dünnen Schneetreiben.
    »Hörst du den Lärm aus der Stadt?« fragte einer der Posten und deutete mit dem Daumen über seine Schulter.
    »Ja, und ich weiß, was er bedeutet. Wir hatten die Bevölkerung in der Hand«, sagte der andere. Immerhin wohnten dort dreißig mal tausend Menschen oder sogar mehr. Zwar waren sie wehrlos gemacht worden, und auch Hunger und Kälte würden sie von einem organisierten Angriff abhalten, aber.
    »Sie werden neue Hoffnung schöpfen. Du weißt, wie viele Kameraden nicht mehr in die Quartiere zurückkehren?«
    »Ich weiß. Und dass viele überfallen und ausgeplündert werden, weiß ich auch.«
    »Und vielleicht überfällt er auch die Reiter, die nach dem Tal unterwegs sind.«
    »Sie hätten früher losreiten müssen. Jetzt kommen sie mitten in den schlimmsten Winter«, pflichtete der andere bei.
    Es waren kritische Stimmen laut geworden. Die Soldaten fragten sich, warum Nyrngor so
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