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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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blind spürte sie die Farbe und den Klang dessen, was immer fast schon geschah. Zitternd eilte sie sich selbst voraus, flog mit nach vorne gerichteten Sinnen, die angespannte und wohlriechende Luft der jungen Nacht durchdringend. Ich will nicht, dass der Vogel fliegt, sagte sie sich jetzt, fast ein Licht in der Brust trotz ihres Entsetzens, und eine müde und spröde Wahrnehmung ließ sie die künftigen Bewegungen der Dinge erahnen, kurz bevor sie laut wurden. Und wenn sie gewollt hätte, hätte sie gesagt: Ich will nicht hören, wie der Fluss dahinfließt, und dabei war in der Nähe kein Fluss, aber sie hätte seine gedämpfte Klage über den Kieseln gehört … Und jetzt … jetzt … ja …!
    »Virgínia! Daniel!«
    Ungeordnet stürzte alles dahin, erschrocken und dunkel, der Ruf der Mutter kam aus den Tiefen des Hauses und zerplatzte zwischen den beiden als neue Anwesenheit. Die Stimme hatte nicht die Lautlosigkeit der Nacht gestört, sondern ihre Dunkelheit geteilt, als wäre der Schrei ein weißer Blitz. Noch ehe Virgínia sich ihrer Bewegungen bewusst werden konnte, fand sie sich im Inneren des Hauses wieder, hinter geschlossener Tür. Das Esszimmer, die Treppe erstreckten sich in unscharfer, düsterer Stille. Die brennenden Lampen baumelten im Luftzug, eine beständige, stumme Bewegung. Neben ihr stand Daniel, die Lippen blutlos, hart und ironisch. In der Ruhe des Hofes strich ein freilaufendes Pferd auf schlanken Beinen durchs Gras. Aus der Küche kam Geschirrgeklapper, dann ertönte plötzlich eine Glocke, und Esmeraldas Schritte durchquerten eilig ein Zimmer … dazu baumelte gelassen die brennende Lampe, atmete das Treppenhaus im Schlaf. Da – nicht aus Erleichterung oder vom Ende eines Schreckens, sondern in sich unerklärlich, lebendig und rätselhaft – da spürte sie einen langen, klaren, hohen Augenblick offen in sich. Mit kalten Fingern fuhr sie über den alten Türklopfer, schloss die Augen und lächelte boshaft und tief befriedigt.
    DER HOF GRANJA QUIETA und der dazugehörige Grund lagen einige Meilen entfernt von den Häusern rund um die Schule und die Krankenstation, abseits vom Geschäftskern der Gemeinde Brejo Alto, der sie zugeordnet waren. Das Landhaus gehörte der Großmutter; ihre Kinder hatten geheiratet und lebten weit weg. Nur der jüngste Sohn hatte die Frau ins Elternhaus gebracht, und auf Granja Quieta waren Esmeralda, Daniel und Virgínia geboren. Kurz darauf wurden die Möbel fahnenflüchtig, verkauft, kaputt oder altersschwach, und die Zimmer leerten sich bleich. In Virgínias, das kalt, schwerelos und quadratisch war, stand gerade mal ein Bett. Über dessen Rücklehne hängte sie ihr Kleid, bevor sie sich schlafen legte, und in dem zerschlissenen Unterrock, die Füße schmutzig von Erde, versteckte sie sich unter den riesigen Bettlaken mit langem Wohlgefühl.
    »Besser wären mehr Möbel und weniger Zimmer«, klagte Esmeralda, die Augen gesenkt vor Ärger und Missmut, die großen Füße unbeschuht.
    »Genau das Gegenteil ist der Fall«, erwiderte der Vater, wenn er nicht einfach nur schwieg. Nur die Treppe war mit einem dicken Teppich aus purpurnem Samt ausgelegt, noch von der Hochzeit der Großmutter, über die Gänge verzweigte er sich bis zu den Zimmern, ein unverhoffter Luxus, der etwas Sicheres und Würdiges hatte. Doch dann öffneten sich die Türen, und anstatt des anheimelnden Wohlstands, den der Teppich hätte erwarten lassen, stieß man auf Leere, Stille und Schatten, und der Wind hielt durch die nackten Fenster Zwiesprache mit der Welt. Durch die hohe Fensterscheibe sah man hinter dem Garten mit seinen wuchernden Pflanzen und trockenen Ästen das weite Stück Land, auf dem eine traurige, geflüsterte Stille herrschte. Selbst das Esszimmer, der größte Raum des Hauses, erstreckte sich unten im Erdgeschoss in langen, feuchten Schatten und nahezu verlassen: der schwere Tisch aus Eichenholz, die leichten, goldenen Stühle, noch Teil einer Einrichtung von früher, ein Bücherregal mit schlanken, gewundenen Beinen, die schnelle Luft um die polierten Türknäufe und ein langer Geschirrschrank, darin durchscheinendes Blitzen, erstickte Schreie von Gläsern und Kristall, schlummernd im Staub. Auf der Ablage des Möbels stand eine Schüssel aus rosafarbenem Steingut; das kalte Wasser im Halbdunkel erfrischte die Schüssel, in der ein dicker, krummer und sinnlicher Engel vergeblich um Freiheit rang. Hohe Friese ragten an den Wänden auf und zeichneten senkrechte, stille
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