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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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unbegreifliche Wirklichkeit des Tanzes in der Luft hängen wie eine Lüge. Der Vater betrachtete die beiden schweigend. Bevor er zu essen begann und es damit auch allen anderen gestattete, sagte er mit einer gewissen Traurigkeit:
    »Ach ja.«
    Virgínia liebte ihn in diesen Momenten so sehr, dass sie vor Hoffnung und Verwirrung am liebsten in ihren Teller geweint hätte. Die Mutter seufzte mit nachdenklichen Augen:
    »Ach, lieber Himmel, wer weiß.«
    Aber dann verbrachte sie die Tage wie ein Besuch im eigenen Haus, gab keine Anweisungen, kümmerte sich um nichts. Ihr geblümtes, abgetragenes Kleid bedeckte sie weich, es ließ die weiten, dicken, missmutigen Brüste sehen. Früher einmal war sie lebendig gewesen, mit kleinen Entschlüssen zu jeder Minute – ihr Auge glänzte erschöpft und cholerisch. So hatte sie gelebt, geheiratet und Esmeralda zur Welt gebracht. Und danach war ein langsamer Verlust hereingebrochen, sie konnte ihr eigenes Leben nicht überblicken, auch wenn ihr Körper noch fortlebte, getrennt von den anderen Körpern. Träge, müde und unbestimmt hatte sie erst Daniel geboren und danach Virgínia, sie waren in ihrem Unterleib herangewachsen, nicht zu beherrschen – ein wenig dünn, behaart, die Augen sogar ganz hübsch. Sie klammerte sich an Esmeralda wie an einen Überrest ihres vorherigen Daseins, jener Zeit, in der sie nach vorne geatmet hatte und sich gesagt: Ich werde eine Tochter bekommen, mein Mann wird eine Sitzecke kaufen, heute ist Montag … Aus ihrer Junggesellinnenzeit sollte sie liebevoll ein abgetragenes Nachthemd aufbewahren, als wäre jene Lebensphase ohne Mann und Kinder eine herrliche Zeit gewesen. So verteidigte sie sich gegen den Ehemann, gegen Virgínia und gegen Daniel – in ihren Augen ein Blinzeln. Der Mann hatte ganz allmählich mit seinem schlauen und ruhigen Körper eine Art Schweigen durchgesetzt. Und ganz allmählich, nachdem das Verbot von Einkäufen und Ausgaben seinen Gipfelpunkt erreicht hatte, begriff sie in einer stets wiedergekäuten Freude, die eines der Leitmotive ihres Lebens war, dass sie nicht im eigenen Haus wohnte, sondern in dem des Ehemanns, dem der alten Schwiegermutter. Ach ja; erst hatte sie sich mit fröhlichen Fäden an das gebunden, was vor sich ging, und jetzt wurden die Fäden dicker und klebten oder rissen, und sie selbst prallte unvermittelt gegen die Dinge. Alles war so unvermeidlich, und sie lebte so abgeschnitten, wirklich so abgeschnitten, Maria – so wandte sie sich in Gedanken an eine Schulfreundin, die sie längst aus den Augen verloren hatte. Und da machte man eben weiter, Maria. Sie sah Daniel und Virgínia an, auf eine ruhige Weise überrascht und hochmütig; die beiden waren zur Welt gekommen. Selbst die Geburt war leicht gewesen, sie konnte sich nicht einmal an den Schmerz erinnern, ihr Unterleib war durchaus gesund, dachte sie konfus und musterte sich mit einem raschen Blick; mit ihrer Vergangenheit hatten sie nichts zu tun. Sie sagte schwach: »Iss doch, Virgínia …« und stockte. Virgínia … Den Namen hatte noch nicht mal sie selbst ausgesucht, Maria. Sie mochte glänzende und ironische Namen, wie jemand, der sich Luft zufächert, abwinkend: Esmeralda, zwei Fächerschläge, Rosicler, drei schnelle hinterher … Und das Mädchen, einem Zweig gleich, wuchs, ohne dass sie sich die früheren Gesichtszüge des Kindes hätte merken können, immer neu, fremdartig und ernst, es kratzte sich den schmutzigen Kopf, war schläfrig, mit wenig Appetit gesegnet, malte Unsinn auf Papier. Ja, die Mutter aß nicht viel, aber sie saß mit einem Mangel an Haltung bei Tisch, dass es war, als würde sie sich im Essen suhlen. Sie hatte so gut wie nichts zu tun, schien sich jedoch in ihrem Leben derart eingewickelt zu fühlen, dass sie kaum den Arm losmachen konnte oder gar ein Zeichen geben. Wenn Virgínia sah, wie sie sich am Tisch gehen ließ; dazu ihr Vater, der mit starrem Blick vor sich hin kaute; Esmeralda, die scharf, reglos und begierig sagte: Wo spazieren gehen?! Durch die Sümpfe da?!; Daniel, der sich stolz verdüsterte, nahezu benommen vor im Zaum gehaltener Macht; wenn sie die Augen schloss und in sich selbst ein kleines Gefühl sah, verschlossen, sehr fröhlich, fest, rätselhaft und unbestimmt, so wurde ihr dabei nie klar, dass sie sich eigentlich fragte, ob eine bestimmte Eigenschaft bei einem Menschen die Möglichkeit anderer Eigenschaften ausschloss, ob das, was im Körper steckte, lebendig und seltsam genug war,
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