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Der Lügner

Der Lügner

Titel: Der Lügner
Autoren: Stephen Fry
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Gedächtnis ist die Mutter der Musen.
    Cartwright wuchtete Malthus bis Nantucket vom Regal herunter und schlug Musen nach. Von denen gab es neun, und sie waren die Töchter von Zeus und Mnemosyne. Wenn Healey recht hatte, mußte Mnemosyne Gedächtnis heißen.
    Natürlich! Das Wort »Mnemonik«, das hatte doch was mit Gedächtnisstütze zu tun. Mnemonik mußte sich von Mnemosyne ableiten. Oder andersrum. Cartwright machte sich eine Notiz in seine Kladde.
    Der Enzyklopädie zufolge stammte das meiste von dem, was man über die Musen wußte, aus den Schriften Hesiods, insbesondere dieser
Theogonie
. Das mußte der Dichter sein, den Healey gemeint hatte, Hesiod. Aber woher
wußte
Healey das alles? Er schien nie zu lesen, zumindest nicht mehr als jeder andere. Cartwright würde niemals mit ihm gleichziehen. Es war einfach verdammt unfair.
    Er schrieb die Namen der Musen ab und kehrte seufzend zu Bismarck zurück. Eines Tages würde er ganz bisans Ende gelangen, bis »Zythus«. Nicht daß er das nötig hatte. Er hatte vorgeblättert und gesehen, daß das eine Art antikes ägyptisches Bier war, das von Diodorus Siculus sehr empfohlen wurde – wer immer das war.
     
    Alle waren erstaunt gewesen, als Adrian eines Tages verkündet hatte, er würde sich mit Tom ein Zimmer teilen.
    »Thompson?« hatte Heydon-Bayley gekreischt. »Aber das ist doch der letzte Plattkopf, oder?«
    »Ich mag ihn«, sagte Adrian, »er ist ungewöhnlich.«
    »Ungehobelt, wolltest du sagen. Hölzern.«
    Sicherlich war nichts offensichtlich Appetitliches an Toms Auftreten oder Erscheinung, und er blieb einer der wenigen Jungen seines Jahrgangs, mit dem Adrian niemals das Tier mit den zwei Rücken gemacht hatte, genauer gesagt, mit der er nie das Tier mit dem einen Rücken und einer interessant geformten Mitte gemacht hatte, aber im Laufe des letzten Jahres hatten mehr Leute eingesehen, daß Tom etwas Fesselndes hatte. Er war nicht sehr klug, aber er arbeitete hart und hatte sich dazu gebracht, viel zu lesen, um, wie Adrian annahm, etwas von Adrians Elan und Esprit zu erwerben. Tom ging mit seinen Ideen immer seinen eigenen Weg. Er brachte es fertig, das längste Haar im Haus zu tragen und den öffentlichsten Nikotinkonsum der ganzen Schule zu zeigen, ohne je irgendwelche Aufmerksamkeiten auf sich zu ziehen. Es war, als ob er sich die Haare wachsen ließ und Zigaretten rauchte, weil er es mochte, und nicht, weil er so gesehen werden wollte. Das war gefährlich subversiv.
    Freda, die deutsche Stellvertretung der Wirtschafterin, hatte einmal entdeckt, wie er sich nackt im Unterholz sonnte.
    »Thompson«, hatte sie voller Empörung gerufen, »Sie können doch nicht nackt herumliegen!«
    »’tschuldigung, Wirtschafterin, Sie haben recht«, hatte Tom gemurmelt, eine Hand ausgestreckt und eine verspiegelte Sonnenbrille aufgesetzt. »Ich weiß gar nicht, wo ich mit meinen Gedanken war.«
    Adrian hatte das Gefühl, er wäre es gewesen, der Tom zu Achtung und Popularität verholfen hatte, daß Tom seine eigene, ganz besondere Schöpfung war. Der schweigsame, verpickelte Dumpfnickel des ersten Jahres hatte sich in jemanden verwandelt, den man bewunderte und nachahmte, und Adrian war nicht sicher, wie sehr ihm das gefiel.
    Tom gefiel ihm auf jeden Fall. Er war der einzige, mit dem er je über seine Liebe zu Cartwright sprach, und Tom war diskret genug, zu wenig Interesse oder Mitgefühl zu zeigen, als daß er die reine, heilige Flamme von Adrians Leidenschaft durch Anteilnahme oder Ratschläge hätte auslöschen können. Sampson und Bullock konnten ihm dagegen gestohlen bleiben. Vor allem Sampson, der zuviel vom Musterschüler einer Grammar School hatte, um’s je richtig zu bringen. Nicht die ideale Gesellschaft zum Tee.
    Tee war eine ganz besondere Einrichtung, die sich um Zeremoniell und Anbetung des Toasts drehte. An einem Ort, wo Alkohol, Tabak und Drogen verboten waren, war es lebenswichtig, daß etwas deren Platz als mächtiges und öffentliches Totem von Virilität und Kaltblütigkeit einnahm. Aus längst vergessenen Gründen war Toast die dazu erwählte Substanz. Sein Name wurde bei allen möglichen Gelegenheiten fallengelassen, meist mit grauslichem Public-School-Akzent wie »taste« ausgesprochen.
    »Ich nahm gerade etwas Toast zu mir, als Burton und Hopwood vorbeischneiten …«
    »Harman ist eigentlich nicht schlecht als Diener. Er bereitet einfach reizenden Toast …«
    »Ja, vielleicht solltest du mal bei mir im Zimmer vorbeischauen, wir machen uns
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