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Der Lügner

Der Lügner

Titel: Der Lügner
Autoren: Stephen Fry
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hinab.
    »Hier ist Blau sieben. Objekt bewegt sich die Cavendish-Bibliothek entlang Richtung Musikschule. Over.«
    »Blau sieben, hier Meddlar. Verhör nach Plan verlaufen, Objekt jetzt labil und in Tränen aufgelöst. Rot drei übernimmt Observation in der Musikschule. Over and out.«
    Entweder sind sie lebendig, und ich bin nur Einbildung, dachte Adrian, oder ich lebe, und sie sind Einbildung.
    Er hatte all die Bücher gelesen, er wußte, er war genau wie jeder andere. Aber wem sonst ringelten sich wie ihm Schlangen durch den Magen? Wer rannte neben ihm mit derselben Verzweiflung? Wer sonst würde sich an diesen Augenblick bis ans Ende seiner Tage erinnern und an jeden Augenblick wie diesen? Niemand. Alle saßen sie an ihren Tischen und dachten an Rugby und Mittagessen. Er war anders, und er war allein.
    Das Erdgeschoß der Musikschule bestand aus kleinen Übungsräumen. Als Adrian durch den Eingang stolperte, konnte er stattfindenden Unterricht hören. Ein Cello schubste einen protestierenden Saint-Saëns-Schwan übers Wasser. Eine Trompete weiter hinten furzte »Dein ist die Herrlichkeit«. Und dort, im drittletzten Raum, sah Adrian durch die Glasscheibe, war Cartwright und kämpfte sich ganz passabel durch ein Beethovenmenuett.
    Das Schicksal stellte es immer so an. Sechshundert Jungen gingen hier zur Schule, und obwohl sich Adrian große Mühe gab, Cartwright abzufangen und scheinbarzufällige Treffen zu arrangieren – seinen Stundenplan hatte er auswendig gelernt –, konnte er sicher sein, durch echten Zufall öfter über ihn zu stolpern als sonst.
    Cartwright schien allein im Übungszimmer zu sein. Adrian stieß die Tür auf und ging hinein.
    »Hi«, sagte er, »spiel weiter, das ist gut.«
    »Ach, es ist einfach schrecklich«, sagte Cartwright, »ich schaff ’s nicht, die linke Hand gleichmäßig spielen zu lassen.«
    »Das hab ich aber anders gehört«, sagte Adrian und hätte sich im selben Moment am liebsten die Zunge abgebissen.
    Da war er nun, allein in einem Zimmer mit Cartwright, von dessen Haar sogar jetzt das Sonnenlicht floß, das durchs Fenster hereinschien, Cartwright, den er mit jeder Faser seines Lebens liebte, und alles, was er zu sagen wußte, war: »Das hab ich aber anders gehört.« Mein Gott, was war denn bloß
los
mit ihm? Er hätte genausogut die Stimme von Eric Morecambe benutzen können, »darauf gibt es keine Antwort« schreien und Cartwright eine Ohrfeige geben können.
    »Ähm, offizielle Stunde?« fragte er.
    »Na ja, ich hab in einer halben Stunde meine C-Kurs-Prüfung, also üb ich noch. Zumindest komm ich damit um eine Doppelstunde Mathe rum.«
    »Schwein gehabt.«
    Schwein gehabt?
Ach, reinster Oscar Wilde.
    »Na, dann laß ich dich wohl besser weitermachen, was?«
    Klasse, Adrian, brillant. Meisterhaft. »Dann laß ich dich wohl besser weitermachen, was?« Tausch eine Silbe aus, und das ganze fragile Epigramm bricht zusammen. »Gut«, sagte Cartwright und wandte sich wieder seinen Noten zu.
    »Tschüs dann. Viel Glück!«
    »Tschüs.«
    Adrian schloß die Tür.
    O Gott, o göttlicher Gott.
    Er schleppte sich zu den Klassenräumen zurück. Gott sei Dank war es nur Biffen.
    »Sie kommen außergewöhnlich spät, Healey.«
    »Na ja, Sir«, sagte Adrian und setzte sich an seinen Tisch, »für meinen Begriff lieber außergewöhnlich spät als außergewöhnlich nie.«
    »Vielleicht geruhen Sie mir mitzuteilen, was Sie aufgehalten hat?«
    »Eigentlich nicht, Sir.«
    Etwas wie ein Stöhnen lief durchs Klassenzimmer. Das ging ein bißchen zu weit, selbst für Healey.
    »Wie bitte?«
    »Nun, nicht vor der ganzen Klasse, Sir. Es ist ziemlich persönlich.«
    »Oh, verstehe. Ich verstehe«, sagte Biffen. »Nun, dann erzählen Sie es mir besser nachher.«
    »Jawohl, Sir.«
    Es geht doch nichts darüber, die Drüsen der Wißbegier eines Lehrers zum Schwellen zu bringen.
    Adrian sah aus dem Fenster.
    Steckt ich doch in Cartwright, jetzt da Lenz sich naht.
    Jeden Moment durfte jetzt ein beglückter Prüfer eine reizende kleine Runzel Cartwrights Stirn durchfurchen sehen, während der sich durch sein Menuett hangelte. Durfte sehen, wie der Wollärmel seiner Winterjacke sich an den Armen hochschob.
    Und wenn in Woll mein Cartwright naht, dann, dann däucht mich, wie lieblich fließt die Schmelze seiner Pelze.
    Plötzlich merkte er, wie Biffens Stimme an die Tür seiner Träume klopfte.
    »Können Sie uns ein Beispiel nennen, Healey?«
    »Ähm, ein Beispiel, Sir?«
    »Ja, für einen Superlativ
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