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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer
Autoren: Christian von Aster
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ab, streckte entspannt die Beine unter den Tisch und schob seinen wulstigen Zeigefinger unter den Metallring. Dann riss er die erste Dose auf, nahm einen kleinen Schluck und hob die Zigarre an seine Nase. Er schloss die Augen und sog ihr Aroma ein.
    Als er die Augen wieder aufschlug, sah er es. Auf einem der Monitore. Nur einen kurzen Moment lang. Aber im Widerschein der Notbeleuchtung sah er es . Es war lediglich ein Schatten, dessen Konturen sich jedoch eigentümlich deutlich gegen das matte Zwielicht der Notbeleuchtung abhoben. Im ersten Moment hielt Bradshaw es für eine Störung.
    Er klopfte mit dem Knöchel seines Zeigefingers gegen den Monitor, doch schon im nächsten Moment sah er, wie sich der Schatten aus dem Sichtfeld der Kamera bewegte und auf dem nächsten Monitor wieder auftauchte. Verwundert kniff der Wachmann die Augen zusammen, stellte das Bier ab und kam – wenn auch widerwillig – zu dem Schluss, dass es sich wohl doch nicht um eine Störung handelte …
    Missmutig ließ er seine Zigarre zurück in den Rucksack gleiten, zog seine Schuhe wieder an und setzte leise fluchend seine Mütze auf. Dann stand er auf und verließ den Überwachungsraum in Richtung Treppe.
     
    Die Hand am Revolver durchquerte Bradshaw vorsichtig die Eingangshalle. Er kam sich albern vor. Jagte er wahrhaftig einem Schatten nach? Wahrscheinlich war es nur irgendein Insekt, das vor der Lampe herumgeflattert war. Schließlich war der Alarm nicht ausgelöst worden, so dass es unwahrscheinlich war, dass irgendjemand ins Haus eingedrungen war. Dennoch beschloss Bradshaw, das Hauptlicht nicht einzuschalten und mit der Notbeleuchtung vorliebzunehmen.
    Als Erstes kontrollierte er die Eingangstür. Verriegelt. Das Schloss unbeschädigt. Leise atmete er auf. Also konnte tatsächlich niemand hier drinnen sein. Dennoch schaute er sich noch einmal um und ging leise zum anderen Ende der Halle hinüber, passierte ein riesiges Gemälde, das seiner Ansicht nach Jesus, in Wirklichkeit jedoch Johannes Gutenberg zeigte. An dem Bild vorbei schlich der Wachmann unter einigen hölzernen Torbögen hindurch in den Flur. Durch die Fenster konnte er draußen das Schneetreiben beobachten. Er riss sich von dem Anblick los und starrte stattdessen in den Flur, in dem jedoch auch nichts zu erkennen war. Weder ein Schatten, der sich gegen irgendein Zwielicht abhob, noch etwas anderes Bemerkenswertes. Im kargen Schein der Notbeleuchtung erkannte er lediglich die gleichen Bücher, Regale und ausgetretenen Teppichfliesen wie eh und je.
    Jeremy Bradshaw wollte gerade wieder zurück in seinen Keller gehen, als er plötzlich das Licht bemerkte, das unter der Tür am Ende des Flures hindurchschien.
    Das Licht in der Bibliothek, das wusste er genau, hatte er auf seinem ersten Rundgang gelöscht. Der Wachmann schluckte. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er mit zitternden Fingern nach seinem Holster tastete.
    So hatte er sich seine letzte Nacht in diesem Haus nicht vorgestellt. Bier, Zigarre und Spaß schienen plötzlich in unerreichbare Ferne gerückt, und irgendwo tief in sich verspürte Jeremy Bradshaw das Bedürfnis, einfach davonzulaufen.
    Doch er riss sich zusammen, bewegte sich langsam weiter voran, und dann, als er kaum noch einen Meter von der Tür entfernt war, begann der Lärm. Aus dem Inneren der Bibliothek drangen dumpfe Geräusche, beinahe so, als ob jemand zwischen den Regalen randalierte und Bücher umherwarf. Keuchend lehnte der Wachmann an der Wand, hob seine Waffe und atmete tief durch. Dann rutschte er näher zur Tür und sprach laut und vernehmlich jene Worte, von denen er gehofft hatte, sie niemals aussprechen zu müssen: »Security! Wer immer Sie sind, ich bin bewaffnet und autorisiert, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.«
    Bradshaw hielt kurz inne. Er erwartete eine Reaktion. Irgendeine. Wobei ihm eine überstürzte Flucht am ehesten recht gewesen wäre. Doch stattdessen polterte und rumpelte es weiter, als ob der Eindringling nicht einmal Notiz von seinem Rufen genommen hatte.
    Zitternd spannte Bradshaw mit leisem Klicken den Hahn des Revolvers. Er spürte, wie seine Hände feucht wurden. Ein Schatten. Er hatte auf jenem Monitor nicht mehr als einen gottverdammten Schatten gesehen.
    »Ich komme jetzt rein. Stellen Sie sich mit dem Gesicht an eines der Regale und strecken sie Hände und Füße weit von sich. Haben Sie mich verstanden?«
    Auf eine Antwort hoffend, hielt er noch einmal inne. Nichts. Nichts als jenes Rumpeln und
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