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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer
Autoren: Christian von Aster
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Poltern. Bradshaw schloss kurz die Augen, lehnte sich zurück und schnellte, die Waffe im Anschlag, vor. Seine Schulter prallte gegen die Tür. Die flog auf, knallte gegen eines der Regale, und dann stand der kleine, dicke Bradshaw – beinahe wie ein richtiger Sicherheitsmann – mit erhobener Waffe mitten in der Bibliothek … und traute seinen Augen nicht.
    Auf diesen Anblick war er nicht vorbereitet. Vor ihm lag, im Schatten der Statue des Heiligen Laurentius, der umgestürzte Sarg. Keine zwei Meter davon entfernt häuften sich unachtsam zu Boden geworfene Bücher. Und vor den Regalen stand, ein Buch nach dem anderen hervorziehend, es betrachtend und dann zu Boden werfend, Edward Lysander Meredith . Irritiert blickte der Wachmann den kaum zwei Tage zuvor verstorbenen Hausherrn an.
    Das war unmöglich. Allein schon, wie er mit den Büchern umging. Vollkommen unmöglich. Und doch sah er, wie Meredith sich im nächsten Moment umdrehte und – ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen – an eines der nächsten Regale herantrat.
    Bradshaw fuhr der Schrecken bis in die Knochen. Entgeistert ließ er seine Waffe sinken. Er verstand nicht, was hier vor sich ging; konnte es sich, so sehr er sich auch bemühte, nicht erklären. Allerdings meinte er, schon einmal gehört zu haben, dass Menschen irrtümlich für tot gehalten und lebendig begraben worden waren.
    Für eine Situation wie diese hatte er keinerlei Anweisungen und wusste dementsprechend nicht, ob er nun eher die Polizei oder Merediths Hausarzt anrufen sollte. So oder so sah er sich in diesem Moment inmitten des inneren Heiligtums von Meredith Hall niemand Geringerem als dem Eigentümer gegenüber, der bei bester Gesundheit schien und mit seinen Büchern schlussendlich verfahren konnte, wie immer es ihm gefiel. Und wenn ihm plötzlich danach war, jene Bücher, die er jahrelang nur mit der Pinzette umgeblättert hatte, auf den Boden zu werfen, dann war es nicht seine Sache, ihm dabei im Wege zu stehen.
    Mit gesenktem Blick murmelte Bradshaw leise: »Verzeihen Sie, Sir, wenn ich Sie gestört haben sollte«, und fügte, um der Situation irgendwie gerecht zu werden, noch hinzu: »Freut mich, wenn es Ihnen besser geht.« Dann trottete er aus der Bibliothek, durch den Flur und zurück in seinen Keller.
    Dort grübelte Bradshaw noch eine gute halbe Stunde darüber nach, ob und wen er angesichts des Vorfalles kontaktieren sollte, kam dann aber zu dem Schluss, sich stattdessen lieber wieder seinem Bier und seiner Zigarre zuzuwenden. So konnte er wenig später auf den Flurmonitoren erkennen, wie Edward Lysander Meredith in seinem Begräbnisanzug und mit einem Buch unter dem Arm aus seiner Bibliothek trat und langsam den Flur hinabschritt.
    Durch den Qualm seiner Zigarre folgten Bradshaws Augen den Schritten des Alten, sahen ihn von einem Monitor auf den nächsten hinüberwanken, bis er die Eingangshalle erreichte.
    Ohne sich um die Alarmanlage oder den draußen tobenden Schneesturm zu scheren, öffnete der zwei Tage zuvor Verstorbene die Tür und verließ schließlich, während der jaulende Alarm innerhalb von Sekundenbruchteilen zu schier unerträglicher Lautstärke anschwoll, unter den fassungslosen Blicken Jeremy Bradshaws ein letztes Mal seinen Londoner Stadtsitz.
     
    Kurz nachdem die Polizei des Alarms wegen in Meredith Hall eingetroffen war, fand man wenige Straßen entfernt Merediths leblosen Körper, der den nachfolgenden Untersuchungen zufolge tatsächlich seit mehr als 48 Stunden tot war.
    Die Aussagen des alkoholisierten Wachmanns schienen den ermittelnden Beamten wenig glaubwürdig. Ihm zufolge war der Hausherr kurz nach Mitternacht allein und auf eigenen Füßen aus dem Haus gegangen. Das aber war nicht nur seines Todes wegen eine absolute Unmöglichkeit, hatte Edward Lysander Meredith doch seit mehr als dreißig Jahren im Rollstuhl gesessen.
    Was immer auch mit ihm geschehen sein mochte, als man ihn fand, hielt der Tote in seinen kalten Händen noch immer das einzige Buch, welches das innere Heiligtum im Lauf der vergangenen siebzig Jahre verlassen hatte. Eine alchemistische Schrift aus dem späten 15. Jahrhundert, George Ripleys The Compound of Alchymy .
    Und mochte das Buch auch vom tobenden Schnee nachhaltig ruiniert worden sein, so wurde sein ursprünglicher Wert zusätzlich noch durch einen anderen Umstand geschmälert:
    Irgendjemand hatte die erste Seite herausgerissen …

John Dee
    ALCHIMIA UMBRARUM (1604)
    Kapitel XIV
    (Seite 143 ff.)
     
    VOM
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