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Der Kuss des Anubis

Titel: Der Kuss des Anubis
Autoren: Brigitte Riebe
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bist du gar nicht?« Seine Augen flackerten. »Das wäre mir aber ganz neu!«
    »Lass endlich deine Spielchen …«
    »Schon gut, schon gut!« Ipis Hände schossen nach oben und Nefer wich unwillkürlich ein Stück zurück. Den Gestank des Todes wurde sein Besucher niemals ganz los, egal wie sehr er sich wusch oder parfümierte. »Wirst staunen, mein Alter!« Er begann, den Stoff aufzurollen, in Streifen geschnittenes, reichlich verschmutztes Leinen, wie es in Kemet hauptsächlich für das Einwickeln von Mumien in Gebrauch war. »Und?«, sagte er schließlich. »Hat es dir bei diesem Anblick endgültig die Sprache verschlagen?«
    »Das ist alles?«, fragte Nefer und starrte ihn an.
    »Was soll das heißen? Etwas mehr Begeisterung für mein Mitbringsel hätte ich von einem ehemaligen Schreiber schon erwartet!«
    »Du bringst mir Papyrusrollen?«
    »Ja, aber welche - direkt aus seinem Grab! Wir haben es gefunden, kapierst du endlich? Obwohl sie es so schlau versteckt hatten. Das ist es doch, was du die ganze Zeit wolltest! Damit hast du mir seit Jahr und Tag in den Ohren gelegen. Und ich hab es den anderen, die die Drecksarbeit erledigen müssen, genauso weitergegeben. Einer von ihnen kennt mehr als die paar jämmerlichen Zeichen, die ich tagtäglich gebrauche. Er sagt, es gebe keinerlei Zweifel. Wir sind genau da, wohin wir immer wollten. Ist das kein Grund zum Feiern, Alter?«
    Nefer schüttelte den Kopf, so heftig und anhaltend, als würde es niemals wieder damit aufhören wollen.
    »Nichts hast du verstanden! Gar nichts!«, presste er hervor. »Ich hätte ebenso gut zu einem Tauben reden können.«

    »Moment mal! Wir haben endlich das Grab des großen Ketzers entdeckt, und du …«
    »Papyrus ist geduldig«, unterbrach Nefer ihn wutentbrannt. »So ein Schriftstück könnte jeder herstellen, der die heiligen Zeichen kennt, und es damit auf allereinfachste Weise fälschen. Damit komme ich nicht weit.« Jetzt schrie er vor Aufregung. »Ihr müsst ihn ganz auswickeln, bis auf die Knochen! Nichts, was ihr bereuen werdet, denn da ist mit Sicherheit noch einiges für euch Gierhälse drin, wenn ihr wirklich die Ersten gewesen sein wollt. Steckt euch meinetwegen die kostbaren Steine in die Backentaschen oder sonst wohin, daran bin ich nicht interessiert. Ich brauche etwas, das es nur ein einziges Mal gibt. Einen unschlagbaren Beweis!«
    »Und was sollte das genau sein?« Ipi, der sonst das Maul gern weit aufriss, wirkte plötzlich eingeschüchtert.
    »Den Herzskarabäus. Ja, bring mir den Herzskarabäus des Pharaos - und ich kann dir bald deinen größten Wunsch erfüllen!«

    Ganz Waset lag in tiefem Schlummer, nur Miu war hellwach, obwohl sie sich inzwischen so müde fühlte, dass sie schon anfing, alles doppelt zu sehen. Immer wieder rief sie sich die Ereignisse des vergangenen Tages in Erinnerung, ließ vor ihrem inneren Auge ablaufen, was sie gesehen und gehört hatte, und zerpflückte jede Einzelheit, in der Hoffnung, sie hätte sich vielleicht doch getäuscht. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, die Dinge blieben, wie sie waren.
    Selbst der Blick auf Pau und ihre Jungen, im Schlaf eng
an den Leib der Mutter geschmiegt, machte sie nicht ruhiger, ganz im Gegenteil. Denn jedes Mal wenn Miu ihre wiedergefundene Katze ansah und das doppelte Geschenk, das sie ihr gemacht hatte, stiegen seltsame Erinnerungen in ihr auf, die ihre Ratlosigkeit nur noch vergrößerten.
    Als erstes Rot am Himmel den Morgen ankündigte, fiel Miu schließlich doch in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie hochschrak, als sie Anuket im Hof mit dem Frühstücksgeschirr klappern hörte. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern bis zu Papas allmorgendlichen Ermahnungen, die heute gewiss besonders streng ausfallen würden. Großmama, die Einzige, die sie ab und zu davor retten konnte, liebte es, lange zu schlafen, und hasste es, dabei gestört zu werden. So blieb Miu nur eines: ein gezwungenes Lächeln aufzusetzen und zu ertragen, was eben nicht zu ändern war.
    Sie wusch Gesicht und Hände in der Alabasterschale, die ihr Vater ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, zog sich an, kämmte sich, rührte frisches Malachitpulver auf der Schminkpalette an, um die Augen mit sattem Grün zu betonen, genau so, wie er es am liebsten an ihr sah - und machte sich innerlich auf das Schlimmste gefasst.
    Aber sie hatte sich getäuscht.
    Er schien so tief in Gedanken, dass er offenbar kaum bemerkte, wer ihm gegenübersaß. Er hatte auch keinen großen Appetit,
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