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Der Kuss der Sirene

Der Kuss der Sirene

Titel: Der Kuss der Sirene
Autoren: Mandy Hubbard
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nackt vor einem Jungen, jedenfalls nicht so.
    Cole wirft mir mein T-Shirt zu und zieht sein eigenes an. »Und was ist daran so erstaunlich?« Er wirkt verwirrt, aber auch erleichtert.
    Ich schlüpfe in die Boxershorts. »Es ist ein Wunder! Für dich wahrscheinlich unbegreiflich: Normale Menschen schlafen. Sirenen nicht. Seit zwei Jahren habe ich nicht mehr geschlafen. Stattdessen bin ich nachts im See geschwommen.«
    Langsam scheint er zu verstehen. »Also … hat Erik doch die Wahrheit gesagt! Du musst jetzt nicht mehr schwimmen.«
    Â»Das könnte stimmen.« Etwas ernüchtert sitze ich da. »Ich bin diese Nacht ja schon geschwommen, zumindest ein bisschen. Aber das erklärt nur, weshalb ich nicht noch einmal ins Wasser musste. Nicht, warum ich schlafen konnte.«
    Hoffnung keimt in mir auf. Was, wenn alles ganz einfach ist? Vielleicht reicht es aus, wenn ich jemanden finde, der auch dann bei mir bleibt, wenn er die Wahrheit kennt.
    Das kann auch der Grund gewesen sein, weshalb Erik zuerst Cole ausschalten wollte: Wenn ich Cole getötet hätte, wie es Eriks Plan war, hätte ich nie erlöst werden können.
    Â»Ich kann einfach nicht glauben, dass es so einfach sein soll«, sage ich mehr zu mir selbst als zu Cole.
    Er nimmt meine Hand. »Ockhams Rasiermesser.«
    Â»Was?«
    Â»Das ist ein Prinzip der Wissenschaft: Die einfachste Antwort ist meist die richtige.«
    Nervös stehe ich auf und ziehe die Vorhänge auf. Der Mond leuchtet über dem Ozean, die Wellen schlagen sanft an die Küste. Ich starre eine ganze Weile schweigend hinaus, warte darauf, das vertraute Verlangen zu spüren, die mächtige Anziehungskraft des Meeres. Aber ich fühle nichts.
    Ich drehe mich um. »Dann ging es also die ganze Zeit für mich nur darum, dir zu vertrauen und mich schließlich in dich zu verlieben. Nur so konnte das Drama ein Ende finden.« Mir ist gleichzeitig zum Weinen und zum Lachen zumute. Dann war der ganz Krampf mit Erik von vorneherein umsonst.
    Cole tritt zu mir und streicht eine verirrte Locke über meine Schulter zurück. »So könnte es gewesen sein«, sagt er.
    Das wäre schön. Zu schön, um wahr zu sein.
    Â»Wir müssen rausgehen. Ich muss sofort an den Strand. Aber du musst mir eins versprechen: Wenn ich auch nur den kleinen Zeh ins Wasser stecke, hältst du dir sofort die Ohren zu und rennst weg. Egal was ich tue.«
    Â»Ja, ich hol mir nur schnell was zum Anziehen.« Er streift seine Schlafanzughose über und nimmt ein Kapuzenshirt aus dem Schrank. Er wirft mir auch eins zu, das ich in letzter Sekunde auffange.
    Er hält mir die Tür auf, während ich in das Sweatshirt schlüpfe. Meine Arme verlieren sich in den Ärmeln. Es ist warm und weich und verströmt jenen Waldgeruch, den ich in den letzten Wochen so sehr vermisst habe. Cole hat mir erzählt, dass er gern in den Tillamook Wald geht. Deswegen riecht er immer so gut.
    Im Gehen greift Cole nach meiner Hand.
    Abrupt ziehe ich sie weg. »Bleib lieber ein paar Meter hinter mir. Wenn wir uns anfassen, könnte ich dich mit ins Wasser ziehen.«
    Er hebt überrascht die Augenbraue. »Lexi, du würdest doch nicht …«
    Â»Ich traue mir selbst nicht. Und im Moment solltest du das auch nicht. Also, tu einfach, was ich sage!«
    Cole gehorcht und lässt mich vorangehen. Meine Schuhe sinken etwas im Sand ein, bis ich die feuchte, feste Zone erreiche, die die Wellen hinterlassen, wenn sie sich ausbreiten und wieder zurückziehen.
    Cole beobachtet mich aus sicherem Abstand. Nichts passiert. Ich drücke den Leuchtknopf an meiner Armbanduhr: 3.57 Uhr. Es ist, als wartete man am Gleis auf einen Zug, der niemals ankommt. Und bevor ich weiß, wie mir geschieht, beginne ich zu weinen. Aber da ist Cole schon bei mir und zieht mich an sich. Ich wehre mich nicht. Ich küsse ihn einfach.

Kapitel 33
    Eine Woche später trete ich durchs Tor des Küstenfriedhofs. Auf dem Boden raschelt welkes Laub. Als eine eisige Oktoberbrise aufkommt, ziehe ich Coles Pullover enger um mich. Diesmal bin auf dem Weg zu Stevens Grab nicht allein.
    Wir suchen uns einen Weg zwischen den Grabsteinen hindurch, die Welt um uns herum ist ganz still, nur das von Raureif überzogene Gras knistert unter unseren Schritten. Der Stein aus weißem, poliertem Marmor, in dessen unterer Ecke ein Football eingelassen ist, scheint wie für die Ewigkeit gemacht.
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