Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kraehenturm

Der Kraehenturm

Titel: Der Kraehenturm
Autoren: Kerstin Pflieger
Vom Netzwerk:
ging, als sich seine Muskeln verfestigten. Seine Sinne verschärften sich, er roch das Blut, das aus ihren Wunden strömte, hörte das Pochen der Herzen seiner Gefährten. Mit schlangengleichen Bewegungen und roher Gewalt drang er auf den Doctore ein. Silas starrte den jungen Gelehrten einen Moment verblüfft an, dann stieß er einen Kampfschrei aus und stürzte sich mit neuer Kraft in den Kampf. Unter ihren gemeinsamen Attacken erlahmte die Gegenwehr des Doctore. Immer wieder fuhren ihre Klingen in sein runzeliges Fleisch. Seine Wunden hörten auf, sich immer wieder zu regenerieren, und schwarzes Blut tropfte auf den Boden. Als der Doctore auf seinem eigenen Blut ausrutschte und für einen Augenblick taumelte, trat der Hexenjäger ihm voller Wucht die Waffe aus der Hand, sodass sie in hohem Bogen zur Seite flog und der Doctore mit einem Aufschrei in die Knie ging. In einer fließenden Bewegung warf sich Silas zu Boden, rollte sich ab und ergriff im Aufstehen Rabans Schwert. Mit letzter Kraft holte er aus und schlug dem Doctore den Kopf ab. Schwer atmend blickte der Hexenjäger noch einmal auf den Leichnam des Mischlingswesens, um anschließend zu Gismara zu eilen.
    Icherios rang nach Luft, während er sich bemühte, den Strigoi in sich zu verdrängen. Noch immer spürte er die fremdartige Energie durch seinen Körper strömen, und – was ihn noch mehr erschreckte – ein Verlangen nach Fleisch und Blut, das ihn an die Andreasnacht erinnerte, versuchte sich seiner zu bemächtigen. Schließlich zog der Strigoi sich lachend zurück. Der junge Gelehrte wusste, dass sein Kampf gegen diese Kreatur in ihm nun noch schwerer werden würde, aber im Moment war es ihm egal. Er hatte nicht mehr geglaubt, diesen Kampf zu überleben, und war für jeden Atemzug dankbar. Schleppend schritt er auf den Stab in der Mitte der Plattform zu. Um ihn herum lagen alte Amulette und Zierdolche – die Fragmente.
    »Wir müssen uns mit ihnen verbinden, um den Schleier zu stabilisieren«, stöhnte Gismara. Sie lag kreidebleich in ­Silas’ Armen.
    »Wir sind nur drei«, wandte Icherios ein.
    »Mir verleiht Sinthgut mehr Energie, als jeder Mensch sie geben kann, und du trägst eine mächtige Kreatur, den Strigoi, in dir.«
    »Dann muss ich also für immer so bleiben?« Icherios schauderte bei dem Gedanken.
    »Nur bis wir andere vertrauenswürdige Personen gefunden haben.«
    Der junge Gelehrte starrte zu den sich drehenden Rädern hinauf. Auf der Erde starben gerade unzählige Menschen. Er hatte keine Wahl.
    Mit Silas’ Hilfe stand Gismara auf. Sie wisperte lateinische Verse, während sie dem Hexenjäger und Icherios jeweils ein Amulett überreichte und sich selbst einen goldenen Ring überstreifte. »Es ist anders als der ursprüngliche Zauber, aber es wird genügen, bis wir mehr herausgefunden haben. Spürt ihr etwas?«
    Icherios horchte in sich hinein; der Strigoi kicherte vergnügt, doch ansonsten fühlte er keine Veränderung. Dann kam es: Es fing mit einem Kribbeln in seinen Zehenspitzen an, breitete sich als leichtes Ziehen über seinen ganzen Körper aus, als wenn er in einem starken Sog stünde. Es war kein angenehmes Gefühl, aber er würde damit leben können.
    Sie blieben noch einige Zeit auf der Plattform. Der junge Gelehrte saß neben Rabans Leiche. Trotz ihrer Auseinandersetzungen schmerzte ihn der Verlust. Das war es doch, was Raban gewollt hatte, versuchte er sich zu beruhigen. Trotzdem rannen die Tränen über seine Wangen. Ein leichter Wind strich über sein Gesicht und trug den Duft von Veilchen an seine Nase. Er blickte auf und sah die schlanke Gestalt einer Frau, die sich über Raban beugte. Er blinzelte, und da war die Vision auch schon verschwunden.

46
    Das Leichenmahl
    G
    24. Novembris, Heidelberg
    K üss mich ein letztes Mal«, verlangte Gismara. Sie befanden sich im Schlafzimmer ihrer Wohnung, und während Silas noch nackt in ihrem Bett lag, stand sie bereits angekleidet vor dem Spiegel.
    Silas sprang auf und zog sie in seine Arme. »Ich dachte schon, du fragst nie.« Er verschloss ihre Lippen mit einem innigen Kuss. »Bleib bei mir. Wir könnten doch einfach abhauen.«
    »Ich habe Hazecha mein Wort gegeben. Wenn ich morgen wiederkomme, bist du verschwunden.« Ihre Augen schimmerten feucht. Sie konnte es nicht fassen, aber sie liebte diesen ungewöhnlichen Mann von Herzen, obwohl er so viele ihrer Schwestern getötet hatte.
    »Ich werde dich nie vergessen.« Er räusperte sich. »Meine Güte, ich bin wohl zu alt und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher