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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet
Autoren: Hannes Stein
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oben: Er hob ab. Dudu Gottlieb aber betete mit geschlossenen Augen. Die Wahrheit war nämlich: Obwohl er sich auf diese Reise gefreut hatte, litt er ein wenig unter Mojre, unter Flugangst. Darum sagte Dudu jetzt die Formel, mit der sich das jüdische Volk seit alters und jeher zur Einheit und Einzigartigkeit Gottes bekannt hat: »Schma Jisruel«, betete er, »Adoischem elaukäinu Adoischem echod.« Dabei dachte er: Dieser Körper, Ewiger, er gehört dir. Du kannst mit ihm tun, was du willst. Zermalmen, zerfetzen, es ist ganz gleichgültig. Kurz der Schmerz, ewig die Freude. Was soll dieses Schütteln, dieses Rütteln? Himmel, hilf. »Adoischem echod.« Behüte meine Frau, du unberechenbarer Gott meiner Väter, und passe auf meine Töchter auf, sie sind doch erst zwei und fünf.
    Als sie nach einer kleinen Ewigkeit immer noch nicht abgestürzt waren, schlug Dudu die Augen auf. Bald hatte der Mondflieger, wie der Flugkapitän aus seiner Kanzel meldete, seine vorläufige Reiseflughöhe von zehn Kilometern erreicht – seine Triebwerke zündete er naturgemäß nicht über bewohntem Gebiet, sondern erst dann, wenn sie weit draußen über dem Nordatlantik waren. Dudu Gottlieb fasste sich unterdessen so weit, dass er ein kräftigeszweites Frühstück verputzte: noch mehr tiefschwarzen Kaffee, noch ein Kipferl, eine Eierspeise mit Schnittlauch, Tomaten. Auf dem Bildschirm, der vor ihm justiert war, lief unterdessen ein langweiliger Dokumentarfilm, den Dudu kaum eines Blickes würdigte. Schließlich kannte jedes Kind diese Geschichte auswendig (Hermann Oberth aus Siebenbürgen und sein »Verein für Raumschifffahrt«; Walter Kramer aus Augsburg, der »Vater der Raketentechnik«; am 3. Oktober 1942 der erste bemannte Raumflug von Peenemünde aus, am 27. März 1945 endlich die erste Landung auf dem Erdtrabanten
Hinweis
: die Flagge des Deutschen Kaiserreiches wurde in den Mondstaub gepflanzt). Dudu griff nach der Stoffserviette und wischte sich den Mund ab. Anschließend sprach er den 126. Psalm und das Tischdankgebet, faltete die Neue Freie Presse auseinander – neuerdings druckten die Herrschaften sogar Farbfotos auf der Titelseite, widerlich – und konstatierte: Auf der Welt war nichts los, wirklich gar nichts. Die Japaner waren immer noch mit dem Massakrieren aufständischer Chinesen beschäftigt. (»Olle Jabana san eingtlich eh Chinesa«: Diese Perle fernöstlicher Weisheit hatte ihm kürzlich sein Hausmeister dediziert.) Die Kaiser-Gemahlin war angeblich in Sandalen gesichtet worden. Weitere Nachrichten im Innenteil.
    Der Mondflieger brauste über die Kronländer der Monarchie und die Kantone der Eidgenossenschaft hinweg und nahm immer deutlicher Kurs auf den Atlantik. Unterdessen döste Dudu Gottlieb: Amerika, dachte er im Halbschlaf, ach ja, Amerika. Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, da hatte er sich nach Amerika gesehnt. Und gerade eben hatte er in der Zeitung die Meldung gelesen, dass Cuba als 52. Bundesstaat in die Union aufgenommen werden wollte … als junger Mann hatte Dudu vom Donner der Niagarafälle geträumt, vonbizarren Kakteen im Staub von Nevada, von den Hängebrücken der Riesenstadt New York … dort gewesen war er allerdings nie. Amerika war ein wüstes weites freies Land, wo jeder Bürger nicht nur das Stimmrecht besaß, sondern eine Waffe besitzen durfte. Es war ohne Zweifel eine Reise wert – später einmal, nach seiner Pensionierung vielleicht. Amerika, »wo sie ohne Spucknapf spucken, wo sie ohne König kegeln«, wie Heinrich Heine gedichtet hatte … es musste etwas ganz Besonderes sein. Man bedenke: eine Republik, die sich über einen ganzen Kontinent erstreckt, so etwas wie eine Schweiz in Übergröße … nur eine Kultur hatten sie dort drüben selbstverständlich nicht. Aber daraus konnte man den Amerikanern keinen Vorwurf machen, schließlich hatten sie keinen Victor Léon, keinen Eric Charell, keinen Oskar Hammerstein, der ihnen leichtfüßige Operetten geschrieben hätte … es gab in Amerika auch nicht die Tradition des Komödianten, der sich, nur mit einem Mikrofon bewaffnet, einem Saal voller Menschen entgegenstellt: keinen Karl Farkas
Hinweis
, keinen Fritz Grünbaum
Hinweis
, keinen Daniel Kaminsky, keine Sarah Silberman.
    Frankreich war da doch etwas ganz anderes, ein Kulturstaat. Erst vor zwei Monaten war Dudu Gottlieb bei einem astronomischen Kongress in Paris gewesen; unter anderem hatten sie dort über die uralte Frage diskutiert, ob sich draußen im All intelligente
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