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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet
Autoren: Hannes Stein
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Lebewesen herumtreiben. (Dudus Antwort: entschieden nein. Es gab nur eine schmale Zone, in der Leben überhaupt möglich war, unser blauer Planet befand sich zufällig – oder dank der Gnade Gottes – just in dieser Zone, und auch das nur für ein paar Jahrmillionen: gerade der richtige Abstand zur Sonne, genau die richtige Menge flüssigen Wassers, ein ungewöhnlich großer Trabant, der für Ebbe und Flut sorgte, ein starkes Magnetfeld, dasdie schädliche Weltraumstrahlung abfing usw. Es widersprach allen Regeln der mathematischen Wahrscheinlichkeit, dass dergleichen im Universum noch einmal vorkam.) Dudu hatte zu jenem Astronomenkongress Barbara und die Kinder mitgenommen; abgestiegen waren sie im »Ritz« (die französische Republik war großzügig und bezahlte ihren Aufenthalt). Er und seine Familie hatten die hypertrophe Pracht des Hotels genossen, sie waren von der Place Vendôme zu den Tuilerien hinübergeschlendert und von dort hinunter zur Seine; Barbara war froh gewesen, dass sie an den Einheimischen ihr Französisch ausprobieren konnte. Wenn er daran zurückdachte, stieg vor Dudus innerem Auge vor allem das Bild der Place de Vosges auf: eckig zurechtgestutzte Bäume, elegant geschwungene Laternen, Renaissancearkaden, ein Springbrunnen in der Mitte – es war vielleicht der schönste Platz auf dem Alten Erdteil. Dudu hatte dort gebetet, in der alten kleinen Synagoge mit der Hausnummer 14, während Barbara die Kinder zurück ins Hotel brachte. Und überall, wohin sie auch gegangen waren, hatten sie in Paris drei Flaggen brüderlich nebeneinander wehen gesehen. Die größte war die Trikolore der Dritten Französischen Republik gewesen
Hinweis
; obwohl jenes Staatswesen 1871 aus einer militärischen Niederlage gegen die Deutschen hervorgegangen war, flatterten Bleu und Blanc und Rouge fröhlich im Wind. Etwas kleiner flatterte das weiße Kreuz der Eidgenossenschaft auf rotem Tuch; und es flatterte auch das Weiß über Blau von San Marino – mit einem goldenen Wappen in der Mitte.
    Wieso gerade diese drei Nationalsymbole? Dudu Gottlieb hatte es seiner Frau hinterher im Hotelzimmer geduldig erklärt, während sie ihm die Fliege band: weil das diedrei europäischen Republiken waren. Drei Republiken mit verschiedenen Traditionen, dozierte Dudu (Barbara zurrte ihm derweil sanft den Knoten unter dem Kinn fest): hier also Frankreich, dort die Schweiz und da drüben der Zwergstaat in Norditalien. Übrigens war San Marino nicht nur die kleinste, sondern auch die älteste unter ihnen, ja es handelte sich überhaupt um die älteste Republik der Welt – Verfassung aus dem Jahre 1600. Eigentlich hatte man es mit dem letzten überlebenden italienischen Stadtstaat zu tun, geleitet von zwei Capitani Reggienti, die jedes Halbjahr neu gewählt wurden. Glücklicherweise hatte erst kürzlich am Wochenende ein Artikel über San Marino im Reiseteil der Neuen Freien Presse gestanden, sodass Dudu nun mit seiner angelesenen Weisheit glänzen konnte. (Dass Barbara jenen Artikel ebenfalls gelesen hatte, erwähnte sie mit keinem Sterbenswort; sie beließ ihn in dem Glauben, er habe ihr gegenüber einen Vorsprung, da sie nicht nur schön, sondern auch lebensklug war.) Die drei europäischen Republiken, fuhr Dudu fort, betrachteten einander als natürliche Bundesgenossen, denn bei allen anderen Staaten in Europa handelte es sich bekanntlich um Monarchien bzw. Fürstentümer; Frankreich aber sah sich als primus inter pares, als Schutzmacht der beiden anderen. Beinahe vergessen war darüber der Schrecken, der einmal in diesem Land geherrscht und seinen Namen vor Gott und den Menschen zum Abscheu gemacht hatte.
    Wenn es übrigens etwas gab, das Dudu an Frankreich befremdete, so war es die Selbstverständlichkeit, mit der man die republikanische Regierungsform hierzulande als etwas Normales betrachtete. An ihrem letzten Abend in Paris war Dudu Gottlieb mit den anderen Kongressteilnehmern zu einem Staatsempfang im Élyséepalast beim scheidenden Präsidenten eingeladen gewesen. (Barbara blieb unterdessen mit Susanne und Eva im »Ritz« zurückund genoss das luxuriöse Schwimmbad.) Viel Aufhebens wurde bei jenem Empfang darum gemacht, dass bald der erste Kandidat aus den Kolonialgebieten – ein schwarzer Mann von der Insel Martinique – den Eid auf das wichtigste Amt der französischen Republik ablegen würde. Allons enfants de la Patrie usw. Gewiss, dieser Weltoffenheit durfte man einen frohen Salut entbieten. Aber sie war doch nicht im
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