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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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lange. Im Februar 2005 war Germaines Krebs außer Kontrolle geraten; er wuchs so schnell, dass sie sein Gewicht in Pfund angeben konnte, wenn sie sich einmal wöchentlich auf die Waage stellte. Irgendwann bekam sie solche Schmerzen, dass sie nicht mehr vom Bett zur Tür gehen konnte, und musste im Krankenhaus aufgenommen werden. Mein Besuch bei Germaine an diesem Abend hatte nicht den Zweck, Medikamente und Therapien zu besprechen; ich kam, um eine ehrliche Aussöhnung zwischen ihr und ihrem Zustand herbeizuführen.
    Aber sie war mir, wie immer, einen Schritt voraus. Als ich mit ihr besprechen wollte, wie es weiterginge, winkte sie nur ab und ließ mich nicht ausreden. Das sei ganz einfach, sagte sie. Keine Studien mehr. Keine Medikamente mehr. Sie sei in den letzten sechs Jahren, von 1999 bis 2005, nicht untätig geblieben; diese sechs Jahre, die sie sich erkämpft habe, hätten sie geschärft, geklärt, geläutert. Sie habe die Beziehung mit ihrem Mann beendet und sei stattdessen ihrem Bruder, einem Onkologen, sehr nahegekommen. Ihre Tochter, 1999 ein Teenager und inzwischen eine ungewöhnlich reife Studentin im zweiten Jahr an einem Bostoner College, sei ihre Verbündete, ihre Vertraute, zuzeiten ihre Pflegerin und jedenfalls ihre engste Freundin geworden. (»Manche Beziehungen zerbrechen durch Krebs, andere entstehen«, sagte Germaine, »bei mir ist beides der Fall.«) Germaine sah ein, dass ihre Gnadenfrist um war. Sie wollte nach Alabama zurück, nach Hause, um den Tod zu sterben, den sie schon 1999 erwartet hatte.
    Wenn ich an dieses letzte Gespräch mit Germaine zurückdenke, dann sind mir, ich muss es gestehen, Objekte deutlicher in Erinnerung als die Worte, die gesprochen wurden: das Krankenzimmer mit seinem scharfen Geruch nach Desinfektionsmittel und Handseife; das grelle, wenig schmeichelhafte Deckenlicht; ein Beistelltisch auf Rollen, beladen mit Tabletten, Büchern, ausgeschnittenen Zeitungsartikeln, Nagellack, Schmuck, Postkarten. An der Wand Fotos von ihrem schönen Haus in Montgomery und ihrer Tochter, die eine im Garten gepflückte Frucht präsentiert; auf einem Tisch an der Wand eine Krankenhausvase mit einem Strauß Sonnenblumen. In meiner Erinnerung sitzt Germaine, ein Bein lässig baumelnd, im Rollstuhl und trägt ihre übliche Kombination aus auffälligen, exzentrischen Kleidungsstücken und mächtigen Klunkern. Ihr Haar ist sorgfältig frisiert. Sie wirkt förmlich, erstarrt, perfekt, wie das Bild einer Patientin, die im Krankenhaus auf den Tod wartet. Sie scheint zufrieden; sie lacht und scherzt. An ihr sieht eine transnasale Magensonde würdevoll und wie selbstverständlich aus.
    Erst Jahre später, als ich an diesem Buch saß, konnte ich endlich in Worte fassen, was mich an dieser Begegnung so beklommen und demütig gemacht hatte, warum mir die Gesten in diesem Zimmer überlebensgroß vorgekommen waren und die Objekte wie Symbole; warum Germaine selbst wie eine Schauspielerin in einer Rolle wirkte. Nichts, begriff ich, war dem Zufall überlassen. Die Charakteristika ihrer Persönlichkeit, früher impulsiv und natürlich, waren nun kalkulierte, beinahe reflexhafte Reaktionen auf ihre Krankheit. Ihre Kleidung war deshalb so lässig und weit, damit sie die wachsende Ausbeulung des Tumors in ihrem Unterleib verbarg, und ihre Halskette war so riesig, damit sie den Blick auf sich zog und von ihrem Krebs ablenkte. Ihr Zimmer war ein buntes Durcheinander aus Krimskrams und Fotos, Blumen und Postkarten an der Wand, damit es sich von der kalten Anonymität des Standard-Krankenzimmers abhob. Ihr Bein baumelte in genau diesem Winkel, weil der Tumor in ihre Wirbelsäule eingedrungen war und das andere Bein bereits Lähmungserscheinungen zeigte, so dass sie gar nicht mehr anders sitzen konnte. Ihre Lässigkeit war durchdacht, das Scherzende einstudiert. Ihre Krankheit hatte versucht, sie zu unterjochen, sie namenlos und humorlos zu machen, zu einem hässlichen Tod in einem kalten Krankenhauszimmer Tausende Kilometer von zu Hause entfernt zu verurteilen. Germaine rächte sich, indem sie ihr immer ein Stück voraus war, immer um einen Schritt gewitzter.
    Es war, als sähe man zwei ineinander verbissenen Schachspielern zu. Jedes Mal, wenn Germaines Krankheit einen Zug machte und ihr einen weiteren entsetzlichen Zwang auferlegte, schlug sie mit einem nicht weniger nachdrücklichen Gegenzug zurück. Die Krankheit agierte, Germaine reagierte. Es war ein morbides und faszinierendes Spiel – es hatte sich
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