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Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Titel: Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Autoren: Bill Bass Jon Jefferson
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auch unzählige Male von seinem Vater gehört, Ford-Autos seien nur Blechkisten, »und zwar aus verdammt dünnem Blech«.)
    Wir hielten an einer Straßenecke, wo ein Mann neben einem Stapel mit Zeitungen stand. Papa streckte den Arm an mir vorbei, kurbelte das Fenster herunter, drückte mir ein Zehn-Cent-Stück in die Hand und fragte mich, ob ich den Mann bezahlen wolle. Aus irgendeinem Grund - Angst? Schüchternheit? - schüttelte ich den Kopf und drückte mich gegen meinen Vater. Er lächelte gutmütig, nahm die Münze zurück und gab sie dem Zeitungsverkäufer.
    Ich besitze Fotos von diesem gut aussehenden jungen Anwalt, dessen Namen ich trage. Auf manchen davon sitze ich auf seinem Schoß. Auf anderen steht er neben meiner Mutter. Auf den meisten Bildern lächelte er. Soweit ich mich überhaupt erinnern kann, waren wir damals glücklich - war er glücklich.
    Aber meine Erinnerung ist bei weitem nicht gut genug, denn sie erklärt nicht einmal ansatzweise, was dann geschah. An einem Mittwochnachmittag, nicht lange nach unserem sonntäglichen Ausflug zum Zeitungholen, schloss mein Vater die Türe seiner Anwaltskanzlei und erschoss sich. Es war Vorfrühling; wahrscheinlich blühten die Apfelbäume in der Plantage; die Preise für landwirtschaftliche Produkte stiegen endlich wieder an; und mein Vater schoss sich eine Kugel in den Kopf.
    Erst Jahrzehnte später führte ich mit meiner Mutter ein einziges kurzes Gespräch über den Selbstmord meines Vaters; darin deutete sie an, er sei gebeten worden, Geld für einen seiner Mandanten zu investieren, und habe es verloren, als die Börse zusammenbrach. Vielleicht konnte er den Menschen, deren Geld er verloren hatte, nicht mehr in die Augen sehen, vielleicht konnte er aber auch sich selbst nicht mehr in die Augen sehen; wer kann das sagen? Heute, wo ich selbst 40 Jahre älter bin als er zur Zeit seines Todes, kann ich mich im Rückblick eines Gedankens nicht erwehren: Du wärest darüber hinweggekommen. Hättest du nur ein wenig länger durchgehalten, wäre am Ende alles gut geworden. Aber was der Grund auch sein mochte, er sah oder empfand keine Möglichkeit mehr, durchzuhalten. Also machte er Schluss.
    In dem Augenblick, als mein Vater abdrückte, entglitt er meinem Begriffsvermögen - entglitt er uns allen -, und so unfassbar ist er bis heute geblieben. Ich vermisse ihn immer noch. Oft stelle ich mir vor, was wir alles hätten gemeinsam tun können, als ich älter wurde. Ich sehne mich nach väterlichem und anwaltlichem Rat, wenn mir ein Mordprozess bevorsteht und ich im Zeugenstand eine feindselige Befragung über mich ergehen lassen muss. Obwohl ich über 70 bin, weine ich noch heute wie ein Kind, wenn ich mich daran erinnere, wie ich damals vor der Bezahlung dieses Zeitungsverkäufers zurückschreckte. Hätte ich dem Mann doch nur das Geld gegeben! Vielleicht hätte es meinem Vater gefallen; vielleicht hätte er über diesen tapferen kleinen Mann gelächelt, hätte im Herzen eine gewisse Erleichterung gespürt, hätte gespürt, wie ein kleines, entscheidendes Stück Zuversicht in ihm aufkeimte.
    Ist es nicht eine Ironie des Schicksals? Nachdem ich in so zartem Alter den Hauch des Todes gespürt hatte, könnte man eigentlich glauben, ich hätte schon frühzeitig genug davon gehabt, sodass ich ihm im späteren Leben geflissentlich aus dem Wege gegangen wäre. In Wirklichkeit aber habe ich jeden Tag mit dem Tod zu tun. Jahrzehntelang habe ich ihn aktiv gesucht; ich vertiefte mich in ihn.
    Vielleicht will ich ihm noch heute, über die Kluft der Jahre und der Sterblichkeit hinweg, die zwischen uns liegt, meine Tapferkeit beweisen. Wenn ich nach den Knochen der Toten greife, versuche ich vielleicht irgendwie, nach ihm zu greifen, dem einzigen Toten, den ich nie zu fassen bekommen habe.
    Als ich an jenem Tag im Jahr 1982 im Keller des Hauptquartiers der New Jersey State Police saß, konnte ich an diesen fünf Zigarrenröhrchen, an diesen zehn kleinen Knochen nichts, aber auch gar nichts ablesen, was ich nicht bereits wusste. Nichts sprach gegen die Indizien, die man in dem Mordprozess gegen Bruno Hauptmann vorgelegt hatte. Nichts bestärkte die Hoffnungen, die diese Witwe seit einem halben Jahrhundert im Herzen trug.
    Anna Hauptmann hatte einen geliebten Menschen verloren - genau wie die Lindberghs und genau wie ich. Als geliebter Ehemann und überführter Mörder musste er ihr mehr und mehr entgleiten, bis sie sich selbst von den Menschen in ihrer Umgebung löste. Erst dann
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