Der kleine Flügel: Eine phantastische Geschichte mit Musik (German Edition)
Holz der Neue war.
Der Flügel konzentrierte sich und begann zu spielen. Virtuos, fehlerfrei. Er vergaß alles um sich herum, so sehr beglückten ihn die Töne der Sonate, die die Kuppel der Halle mit einem leisen Echo zurückwarf. Als er geendet hatte, applaudierte die Celesta kurz mit ihrem Deckel, bis ein böser Blick von Theodora sie abrupt stoppte.
«Sehr ordentlich, Flügel», brummte die Orgel. «Und jetzt dies.»
Wieder flogen Noten herbei. Und so ging es weiter. Immer weiter.
Andere Instrumente begleiteten ihn nun auf das Kommando der Orgel hin. Jetzt hatte die Guarneri einen Solopart und zeigte, was in ihr steckte.
Die Geige war für Theodora unbestritten die wichtigste und treueste Kriegerin. Eine Könnerin, deren unnahbares Auftreten allein schon alle anderen einschüchterte.
Ihre doppelt geschwungene Schnecke, die am Ende des Halses prangte, und das italienische Lackkleid hoben die Schönheit des Holzes noch zusätzlich hervor. Jede ihrer vier Saiten bestand aus mit Silber umsponnenem Stahldraht, und die Chanterelle, ihre höchste Saite, besaß zusätzlich eine spezielle Legierung, die den Ton in der Höhe noch durchdringender formte.
Die Guarneri schwang gestenreich den Bogen, wie ein Magier seinen Zauberstab. Arrogant, ganz im Bewusstsein ihrer Ausnahmestellung, beendete sie ihren Solopart und übergab mit einem kurzen Nicken wieder an den Flügel.
Der Flügel spielte nun weiter Stück um Stück: Mozart, Beethoven, Haydn, Schubert. Die Orgel hatte die Werke sorgfältig ausgewählt. Sie vermied Stücke, in denen Komponisten den Musikern am Schluss ihrer Werke Gelegenheiten zu einer freien solistischen Abschlusspassage gegeben hatten. Diese sogenannten Kadenzen akzeptierte Theodora nur, wenn sie – wie bei Beethoven und Mozart – streng durchkomponiert waren. Den Hang einiger Komponisten des 16. und 17. Jahrhunderts, Musikern die Improvisation zu erlauben, hielt sie für tragische Verirrungen, die wohl dem Zeitgeist oder anarchistischen Einflüsterern unter den Menschen geschuldet waren. Nein, so etwas gab es bei ihr nicht.
Der Flügel spielte beinahe perfekt und wunderschön. Er war in seinem Element, inmitten der Musik. Aber dennoch spürte er auch das andere. Dieses Verlangen, weiterzugehen, die strenge Form zu verlassen, zu improvisieren, sich freizuspielen. Aber er beherrschte sich, denn er hatte große Angst, den Zorn der Orgel auf sich zu ziehen.
Die Celesta war zunehmend begeistert von seiner Leistung und rückte während seines Spiels immer näher an ihn heran. Sie war ein wertvolles altes Instrument und hatte schon viel erlebt. Wolfgang Amadeus Mozart hatte sogar bei der Premiere der «Zauberflöte» persönlich auf ihr gespielt. Sie wusste also, wer etwas konnte. Und sie spürte, dass dieser Flügel die Gabe der Vollkommenheit hatte – und außerdem rührten sie seine Schüchternheit und sein reiner Geist. Selbst die Guarneri nickte beifällig.
Schließlich bellte die Orgel: «Genug!»
Theodora war zufrieden. Ja, dieser Flügel hatte die Gabe. Es könnte klappen, die Zeit schien reif zu sein.
Alles war bereit. Ihr Blick wanderte zu einem Fenster in der Kuppel der Halle. Rötlich glomm der Notenmond draußen am Himmel. Noch war es nicht so weit, aber bald würde er in der richtigen Position stehen. Aber bis sie das Experiment wagen konnte, brauchte sie Gewissheit. Alles musste perfekt sein, und niemand durfte ausscheren. Nur die totale Unterwerfung garantierte den vollkommenen Klang. Und sie spürte, dass dieser Flügel noch nicht so weit war. Da war etwas in ihm, etwas, das sie noch unter Kontrolle bringen musste. Aber die großen Konzerte mit allen anderen würden das nach und nach erledigen. Es hatte noch immer geklappt. Wie bei der Guarneri – den Widerstand dieses einst so hochmütigen, perfekten Instruments hatte sie schnell gebrochen. Und jetzt war sie ihre treueste Soldatin, eine Jüngerin der Notentreue. Es war alles nur eine Frage der Zeit. Der Wucht der kontrollierten, geballten Musik, zu der sie alle Instrumente zwang, war noch jeder erlegen. Jeder!
Für heute aber war es genug. Theodora schloss ihr Auge.
Der Flügel war erschöpft, aber glücklich. Die Celesta sah ihn beinahe verliebt an, und auch das alte Cembalo ließ jetzt Respekt erkennen. Der Flügel nutzte die Gelegenheit und begann, dem Alten Fragen zu stellen. «Sag, lieber Kollege Cembalo», begann er. «Ich habe bei diesem Begrüßungskonzert auch Schlagwerkzeuge gehört, aber bisher keine
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