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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler
Autoren: Sabine Thiesler
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Hinterhof vom Nachbargrundst ü ck trennte. Der Hof war asphaltiert, irgendjemand hatte einen Blumentopf mit einem verk ü mmerten Gummibaum neben die M ü lltonnen gestellt. Sicher, um ihn loszuwerden, und nicht, um den Hinterhof zu begr ü nen. Jetzt welkte diese k ü mmerliche Pflanze schon seit Wochen vor sich hin und war f ü r die Mieter des Hauses die einzige Natur weit und breit.
    In der einen Hand hielt er den Brief, den er immer wieder las, und in der anderen das Rotweinglas, aus dem er immer wieder trank. Seine beiden unertr ä glichen Schwestern, die Zwillinge Lene und Luise, teilten ihm lapidar mit, dass ihre Mutter von einer Nachbarin gefunden worden war. Tot. In ihrer Badewanne. Erst nach der Beerdigung hatten die Zwillinge beim Sichten des Nachlasses die Nummer seines Postfachs gefunden und ihn benachrichtigen k ö nnen. Sie hatten die Habseligkeiten ihrer Mutter verbrannt und das Haus verkauft. Sein Einverst ä ndnis voraussetzend.
    Gr üß e.
    Nat ü rlich mussten sie sie irgendwann finden. Er hatte schon lange damit gerechnet.
    Im Oktober, als er eine Woche freigehabt und sich gelangweilt hatte, war er zu ihr gefahren. Sie lebte in einem kleinen Haus am Rande eines Dorfes in Niedersachsen. Er hatte seit drei J ahren nichts mehr von seiner Mutter Edith geh ö rt und wollte sehen, wie es ihr ging.
    Als er mit seinem wei ß en Honda auf den Hof fuhr und hupte, regte sich nichts. Es war totenstill. Fr ü her hatte immer der Hund gebellt, wenn jemand kam, und seine Mutter war augenblicklich aus der T ü r getreten, mit einer misstrauischen Zornesfalte auf der Stirn, da sie nie etwas Gutes vermutete, wenn unangemeldet jemand vor dem Haus stand.
    Doch diesmal kam kein Laut. Nirgends r ü hrte sich etwas. Er hatte das Gef ü hl, als hielte selbst der Wind einen Moment den Atem an, denn kein Blatt bewegte sich. Keine Katze schlich vorsichtig um die Hausecke.
    Es hatte den ganzen Morgen geregnet, aber jetzt kam die Sonne zwischen den Wolken hervor und machte deutlich, wie schmierig und verstaubt die Fensterscheiben des Hauses waren, die seit Jahren niemand mehr geputzt hatte. Das Unkraut zwischen den Pflastersteinen, das seine Mutter immer penibel entfernt hatte, war jetzt kniehoch und ü berwucherte fast den gesamten Hof, in den Blumenk ä sten steckten die Str ü nke von Geranien, die schon vor mehreren Wintern vertrocknet waren.
    Der Anblick seines Elternhauses erf ü llte ihn mit Entsetzen. Er n ä herte sich langsam. Leise, um die Grabesstille nicht zu st ö ren, und auch in Erwartung von etwas Schrecklichem.
    Er ging an der Hinterseite des Stalls vorbei ü ber ein Beet, auf dem die Brennnesseln ihm bis zur H ü fte reichten. Fr ü her war das ihr Erdbeerbeet gewesen.
    Als er um die Stallecke bog, sah er ihn. Ringo, einen Schnauzer-Sch ä ferhund Mischling, der seiner Mutter immer ein treuer Freund gewesen war. Seine Mutter hatte ihm ihre Zuneigung nur dadurch gezeigt, dass sie ihm abends seinen Fressnapf f ü llte, aber Ringo liebte sie trotzdem. Er kannte es nicht anders.
    Ringo war immer noch angekettet und lag auf der Seite. Seine mageren, steifen Beine sahen aus wie ü berstreckt. Dort, wo einmal seine Augen gewesen waren, klafften tiefe blutverkrustete L ö cher, Kr ä hen hatte die Augen und die gr öß ten Teile seines Gehirns herausgepickt. Anschlie ß end hatten sich W ü rmer in Ringos Sch ä del eingenistet.
    Alfred beugte sich hinunter und strich ü ber das verfilzte Fell, das sich ü ber dem skelettartigen, v ö llig abgemagerten K ö rper spannte.
    » Du bist verhungert, mein Alter « , fl ü sterte er. » Sie hat dich doch wahrhaftig verhungern lassen. « Alfred atmete tief durch. Er w ü rde sich sp ä ter um Ringo k ü mmern. jetzt musste er erst mal ins Haus und f ü rchtete sich vor dem, was ihn erwartete.
    Die Haust ü r war abgeschlossen, einen Schl ü ssel besa ß er schon lange nicht mehr. Er klingelte lange und ausdauernd, aber nichts r ü hrte sich. Auch auf sein Rufen antwortete niemand. Das kleine Flurfenster neben der T ü r, das fr ü her immer nur angelehnt gewesen und durch das er als Junge geklettert war, wenn er seinen Schl ü ssel vergessen hatte, war ebenfalls fest verschlossen. Alfred holte einen Stein, schlug das Fenster ein und stieg ins Haus. Anschlie ß end klopfte er sich die Splitter vom Pullover, durchquerte den Flur und ö ffnete die T ü r zum Wohnzimmer.
    Edith Heinrich sa ß in einem Sessel am Fenster hinter einer zugezogenen Gardine und war nur noch ein
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