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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler
Autoren: Sabine Thiesler
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schlug sie um sich und schrie ohne Unterlass. Alfred sp ü rte, wie ihm das Blut von den Wangen den Hals hinunterlief und in seinem Pullover versickerte. Seine Mutter kam ihm vor wie ein widerw ä rtiges Insekt, das er Lust hatte zu zerquetschen.
    Immer hatte sie sich gewehrt. Ihr Leben lang. Gegen jede Ber ü hrung, jede Liebkosung. Sie war nie in der Lage gewesen, ihre Kinder in den Arm zu nehmen. Und in diesem Moment besa ß sie ü bermenschliche Kr ä fte und strampelte immer noch, als er ihren winzigen K ö rper in die tr ü be Br ü he gleiten lie ß .
    Sie lag in der Wanne, schlapp wie eine Libelle, die mit nassen, schweren Fl ü geln nie wieder von der Wasseroberfl ä che starten kann. Ihre d ü nnen, wei ß en Z ö pfe schwammen auf dem Wasser, ihre Augenlider waren flammend rot, als h ä tte sie tagelang geweint.
    » Du Dreckskerl « , schimpfte sie, » hol mich sofort hier raus! «
    Alfred reagierte nicht. Er starrte auf ihre spitzen Knie, die aus dem Wasser ragten. Versuchte zu begreifen, dass dieses hilflos in der Wanne treibende Skelett seine Mutter war, aber es gelang ihm nicht. Mit der Hand verursachte er eine Wellenbewegung, und ihr K ö rper schlingerte hin und her.
    » Du hattest gr ü nes Fruchtwasser « , kreischte sie. » Du bist eine Missgeburt! «
    » Ich wei ß , Mama « , sagte er leise und l ä chelte. Dann verlie ß er das Badezimmer und versuchte die Hilferufe seiner Mutter zu ü berh ö ren, als er im Wohnzimmer seinen Autoschl ü ssel suchte.
    Sie w ü rde aus eigener Kraft nie mehr aus der Wanne kommen. Das war ihm bewusst, als er das Haus verlie ß . Und bereits eine Viertelstunde sp ä ter hatte er sie vergessen.
    Als er die dritte Flasche Wein geleert hatte, zerriss er den Brief. Er hatte nicht vor, sich bei seinen Schwestern zu melden. Au ß erdem w ü rde er sich um ein neues Postfach k ü mmern.
    Betrunken f ü hlte er sich nicht. Er schaltete die K ü chenbeleuchtung aus, blieb in absoluter Dunkelheit sitzen und versuchte im Kopf alle Zahlen von eins bis tausend miteinander zu addieren, um sein Gehirn zu trainieren. Er schaffte es noch nicht einmal bis zwanzig.
    Alfred steckte die H ä nde in die Hosentaschen und ging vorn ü bergebeugt, der Wind blies ihm direkt ins Gesicht und nahm ihm den Atem. Sein Kopf schmerz wurde stechend. Er brauchte dringend ein paar Aspirin und einen hei ß en Kaffee.
    Nur wenige Schritte weiter war die Kneipe » Der Fu ß balltreff « . Alfred sah durchs Fenster. Zwei M ä nner sa ß en an der Bar. Der eine hatte schlohwei ß es Haar und einen langen Mozartzopf, das war Werner. Nat ü rlich war er um diese Zeit schon da. Werner hatte geerbt, konnte keine gro ß en Spr ü nge machen, aber wenn er in seiner billigen Wohnung blieb, w ü rde sein Geld reichen, bis er f ü nfundneunzig war. Werner war davon ü berzeugt, nicht so alt zu werden und fr ü her zu sterben, und sah dementsprechend hoffnungsvoll in die Zukunft. Zwischen neun und zehn Uhr kam er jeden Morgen in den » Fu ß balltreff « , begann mit zwei K ä nnchen starkem Kaffee, R ü hrei und Br ö tchen und ging dann allm ä hlich zum Bier ü ber. Er trank langsam, aber kontinuierlich den ganzen Tag, blieb an der Theke sitzen, redete mit den Leuten, die hereinkamen, wusste alles ü ber alle im Kiez und malte ab und zu ein Bild von einem der G ä ste.
    Um Mitternacht ging er immer nach Hause. Aufrechten Ganges, mit festem Schritt und nie betrunken. Werner geh ö rte zum festen Inventar des » Fu ß balltreff « , hier in dieser Kneipe w ü rde ihn der Schlag treffen, hier w ü rde er irgendwann vom Barhocker fallen und mit den F üß en voran hinausgetragen werden.
    Seit er Werner kennen gelernt hatte, mied Alfred den » Fu ß balltreff « , obwohl er dort noch vor kurzem relativ regelm äß ig gefr ü hst ü ckt oder zu Mittag Buletten gegessen hatte. Er hatte Verlangen und Begeisterung in Werners Augen gesehen, als sie sich einmal gegen ü bersa ß en. Werner war von ihm fasziniert, und Alfred wusste, dass er ihn unbedingt malen wollte. Und das wollte Alfred vermeiden.
    Eine halbe Stunde noch, dann machte Milli ihren Imbissstand auf. Bei Milli gab es einen gro ß en, hei ß en Milchkaffee, die besten Curryw ü rste der Stadt und Aspirin gratis. Bis zum Neuk ö llner Schifffahrtskanal war es nicht mehr weit, er beschloss, noch einen Spaziergang zu machen und danach bei Milli zu fr ü hst ü cken.
    Es hatte aufgeh ö rt zu regnen, der starke Wind trieb die Wolken vor sich her und riss ab und
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