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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: John Harvey
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Mieter einen Arbeitsplan an die Kühlschranktür, der nach wenigen Tagen wieder abgerissen wurde, weil jemand einen Zettel brauchte, um dem Milchmann eine Nachricht zu hinterlassen oder sich damit eine Zigarette anzuzünden.
    Raymond blieb für sich, nuschelte »Hallo« und »Tschüs« und fiel den anderen einzig damit auf die Nerven, dass er sich nach der Arbeit stundenlang im Bad einschloss und das ganze heiße Wasser verbrauchte.
    An diesem besagten Samstag gab Raymond sich mit vierzig Minuten zufrieden, hätte sich allerdings mehr Zeit gelassen, hätten die anderen nicht gegen die Tür gepoltert und lauthals die schlimmsten Spekulationen darüber angestellt, was er da drinnen unter dem Deckmantel peinlicher Reinlichkeit trieb.
    Also machte er, dass er hinauskam, und lief die ausgetretene Treppe hinunter in sein Zimmer, während er sich die Ohren noch mit einem Q-Tip reinigte. Der kleine rahmenlose Spiegel, der auf dem Fensterbrett stand, zeigte ihm etliche Pickel rund um seinen linken Augenwinkel. Er drückte sie mit den Fingernägeln aus und wischte sich dann die Finger unter dem Arm, wo man es nicht sah, an seinem dunkelblauen Sweatshirt ab. Er trug eine braune Cordhose, zehn Pfund im Ausverkauf bei H&M, schwarze Stiefel mit Stahlkappe, die als Doc Martens durchgehen konnten, aber keine waren, und Socken mit einem rot-braunen Paisleymuster. Er nahm seine Lederjacke vom Drahtbügel im Schrank und spürte befriedigt, wie sie auf einer Seite leicht nach unten zog – vom Gewicht des Messers.

4
    Es war noch ruhig im polnischen Klub; nur Schallplattenmusik drang aus einem anderen Raum herüber. Die Wodkatrinker am Tresen hatten noch viel Platz. Resnick ließ sich zu einem Tisch in einer Ecke führen, abseits vom sicher bald einsetzenden Gedränge und von der Tanzfläche, die sich bald füllen würde. Marian Witzaks Anruf hatte ihn nicht sonderlich überrascht, und im Grunde war er froh gewesen, dass ihm die Entscheidung abgenommen worden war. Früher, als er noch ein junger Constable und mit Elaine verheiratet war, hatte es ständig Streit gegeben, weil er so wenig freie Abende hatte. Jetzt schien er zu viele zu haben.
    »Es hat dich doch nicht gestört, dass ich angerufen habe?«
    Resnick goss sich den Rest seines Pilsner Urquell ein und schüttelte den Kopf.
    »So ganz ohne Vorwarnung.«
    »Das macht wirklich nichts.«
    »Ich dachte, du würdest es vielleicht aufdringlich finden.«
    »Marian, es ist völlig in Ordnung.«
    »Weißt du, Charles …« Sie hielt inne und strich mit ihren langen, schmalen Fingern über den Stiel ihres Glases. Resnick musste an das Klavier neben der Verandatür in ihrem Wohnzimmer denken, an die Noten einer Polonaise, die langsam vergilbenden Tasten, »… manchmal denke ich, wenn es dir überlassen wäre, dich zu melden, würden wir uns nicht sehr oft sehen.«
    Obwohl sie ihr gesamtes Erwachsenenleben in England verbracht hatte, sprach Marian immer noch so, als hätte sie ihr Englisch gelernt, indem sie sich unzählige Male sämtliche Episoden der ›Forsyte Saga‹ in flimmerndem Schwarz-Weiß angesehen und Stunden damit zugebracht hätte, die Übungssätze ihres Lehrers zu wiederholen. Das ist ein Bleistift. Was ist das? Das ist ein Bleistift.
    Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid mit hohem Kragen und einem weißen Gürtel, der auf der Seite zu einer losen Schleife gebunden war. Wie immer war ihr Haar streng zurückgekämmt und peinlich genau festgesteckt.
    »Eigentlich wollte ich heute Abend ins Theater. Shakespeare. Eine sehr gute Truppe aus London, wie ich gehört habe. Und hochgelobt. Ich habe mich die ganze Woche darauf gefreut. Kulturelle Ereignisse sind hier ja in letzter Zeit ziemlich rar.« Marian nahm einen Schluck von ihrem Getränk und schüttelte den Kopf. »Es ist jammerschade.«
    »Und warum gehst du nun doch nicht?«, fragte Resnick. »Ist die Vorstellung abgesagt worden?«
    »Nein, nein.«
    »Ausverkauft?«
    Marian ließ ein damenhaftes Seufzen hören, das früher in den Salons Herzen hätte höher schlagen lassen. »Meine Freunde, die mich eigentlich mitnehmen wollten, haben am späten Nachmittag angerufen, als ich mir schon überlegte,was ich anziehe. Der Ehemann ist erkrankt; und Frieda hat nie Autofahren gelernt …« Sie sah Resnick von der Seite an und lächelte. »Ich sagte mir, na gut, dann gehe ich eben allein, ich kann mich ja trotzdem an dem Stück freuen. Ich lasse mir ein Bad einlaufen, mache mich langsam fertig, aber die ganze Zeit ist mir klar,
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