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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: John Harvey
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vollgeblutet hatte, und wollte ihm das doppelte Fahrgeld abknöpfen. Die Frau an der Aufnahme musste ihn dreimal bitten, seinen Namen zu buchstabieren,und Raymond gab jedes Mal eine andere Schreibweise an; nicht im Traum würde er ihr seinen richtigen Namen nennen. Sie reinigten die Wunde so weit, dass sie einen Notverband anlegen konnten, verabreichten ihm eine Dosis Paracetamol und setzten ihn in einen Korridor. Dort wartete er. Nach beinahe einer Stunde hatte er die Nase voll von der Warterei, nahm sich oben am Haupteingang noch einmal ein Taxi und fuhr nach Hause.
    In den ersten Tagen löste er jedes Mal, wenn er auf die Toilette ging, das Pflaster, mit dem er den Verband fixiert hatte, um nach Anzeichen einer Infektion zu suchen, ohne eigentlich zu wissen, wie diese aussehen könnten. Doch er sah nichts weiter als eine dunkler werdende Kruste, höchstens zweieinhalb bis drei Zentimeter breit, und rundherum einen schönen Bluterguss, der seine Farbe täglich änderte.
    Er ging wieder zur Arbeit, und wenn er sich nicht gerade streckte oder schwere Rinderhälften schleppte, vergaß er beinahe, was passiert war. Aber das Gesicht, so dicht vor seinem eigenen, als die Klinge in sein Fleisch eindrang, das würde Raymond garantiert nicht vergessen – erst recht nicht mehr jetzt, wo es keine sechs Meter von ihm entfernt war. Der Typ hatte sich wieder zu seinen Freunden gesetzt, aber in gewissen Abständen flog sein Blick noch immer zu Raymond. Was? Bist du immer noch hier? Keinesfalls sollte dieser Typ glauben, dass er Angst vor ihm hätte. Raymond zählte lautlos bis zehn und stellte sein Glas ab, zählte noch einmal bis zehn, wartete, bis der Typ ihn direkt ansah, und zwang sich, dem Blick standzuhalten – na bitte –, bevor er hinausging, als wäre nichts.
    Aber draußen im Korridor ging er nicht nach links zur Straße, sondern rechts die Treppe hinunter zur Herrentoilette. Drinnen war nur ein Mann in einem kurzärmeligen karierten Hemd, der, eine Hand an die Wand gestützt, leicht vornübergeneigt dastand und hingebungsvoll pinkelte.Raymond betrat die erste Kabine, kein Riegel, nahm deshalb die zweite und schob eilig den Riegel vor. Er zog den Reißverschluss seiner Lederjacke auf – vierzig Pfund an dem Stand gleich beim Fischmarkt, ein einmaliges Angebot – und griff in die Innentasche. Den geriffelten Griff des Stanley-Messers zu fühlen hatte etwas Beruhigendes. Der Daumennagel, mit dem er die Klinge aufschnappen ließ, war beinahe bis zum Nagelbett abgekaut. Draußen im Pissoir sang jemand »Scotland the Brave«; in der Nachbarkabine übergab sich jemand. Raymond ließ das Messer geschickt auf- und zuschnappen, auf und wieder zu. Mit der Spitze schnitzte er seine Initialen in die Wand unter dem Spülkasten und machte zum Schluss aus dem R ein B und aus dem C ein D. Während das Messer die Farbe ritzte, malte er sich ein Aufeinandertreffen mit dem Messerstecher aus, irgendwo, wo es richtig voll war, oder auch an einem stillen Ort, das war egal: Wichtig war nur, dass der Kerl wusste, wen er vor sich hatte, wenn Raymond ihn mit der Klinge bearbeitete. »Raymond Cooke.« So würde er es sagen. Brüllen war nicht nötig, sanftes Flüstern reichte. »Raymond Cooke. Weißt du noch?«
    Im Lokal, wo jetzt mehr los war, brauchte Raymond einen Moment, um festzustellen, dass der Typ verschwunden war.

2
    Das kleine Mädchen war seit September verschwunden. Zwei Monate schon; insgesamt dreiundsechzig Tage. Seit dem Tag von Resnicks erstem Heimspiel in der neuen Spielzeit. Alle Jahre wieder nahm er bei diesem ersten Kräftemessen mit der gleichen Begeisterung seinen Platz auf derTribüne im Meadow-Lane-Stadion ein. Ein neuer Spieler in der Abwehr, in der Sommerpause eingekauft; und von der letzten Seite der Lokalzeitung strahlten die beiden Torjäger, die versprachen, sich auf der Jagd nach Rekorden gegenseitig zu übertrumpfen; gute Leute waren aus der Jugendmannschaft und von den Amateuren gekommen – hatten nicht zwei aus dem Team schon in der Jugendnationalelf gespielt? Als er nach dem Abpfiff niedergeschmettert von einem 0:0 mit einer grölenden Gruppe gegnerischer Fans das Stadion verließ, dachte er daran, auf der Dienststelle vorbeizuschauen, aber dann ließ er es lieber. Er hatte gehört, dass Forest 4:1 gewonnen hatte, und auf die sarkastischen Bemerkungen seiner Kollegen, dass er wieder einmal aufs falsche Pferd gesetzt habe, konnte er verzichten. Als brauchte er sie, um das zu wissen; als würde es nicht
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