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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: John Harvey
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ist dein eigen Fleisch und Blut.«
    »Da habe ich manchmal meine Zweifel.«
    »Jackie!«
    »Was?«
    »Gib dem Jungen eine Chance.«
    »Wenn dir so viel dran liegt, dann gib du ihm doch eine.«
    »Sag ich doch die ganze Zeit. Ich kann ihm helfen. Ray,Raymond, he, hör mir mal zu. Ich kenne da einen Kerl vom Snookerspielen, der schuldet mir noch einen Gefallen. Du musst mir nur versprechen, dass du mich nicht hängen lässt.«
    »Na, da verlass dich mal lieber nicht drauf.«
    »Jackie!«
    »Was denn?«
    »Wie schaut’s aus, Ray? Hast du Interesse?«
    Fast ein Jahr war es her, dass sie in ihrer Stammkneipe so über ihn geredet hatten, sein Alter und Onkel Terry. Zwei Lager mit Limo und für Raymond ein Lager, an dem er fast eine Stunde lang herumnuckelte. Und da er sich von seinem Vater nicht vorwerfen lassen wollte, dass er nie seine Zeche bezahlte, hatte er die Runde ausgegeben.
    »Es ist eine Fleischerei. Großhandel. Drüben bei den Sportplätzen.«
    »Das ist der Schlachthof«, sagte Raymonds Vater.
    »Der Job ist nicht im Schlachthof«, korrigierte sein Onkel, »sondern in der Nähe. Gleich daneben, könnte man sagen.«
    »Praktisch«, meinte sein Vater.
    Raymond war dort abends schon vorbeigegangen, wenn er an der Incinerator Road rechts abgebogen war: Ein ständiges elektrisches Summen drang durch die Mauer, ein feuchtwarmer Geruch, der in die Luft einfloss, manchmal so stark, dass es einen würgte und man mit angehaltenem Atem vorbeirannte, bevor die Augen zu tränen begannen und sich einem der Magen umdrehte.
    »Also, Ray-o«, fragte sein Onkel, leerte sein Glas und stand auf, um sich noch eines zu holen, »was meinst du?«
    »Das will ich dir sagen«, erklärte sein Vater und reichte ihm sein ebenfalls leeres Glas. »Der denkt, wozu der Stress, solange er mir noch auf der Tasche liegen kann?«
    »Red mit ihm«, sagte Raymond zu seinem Onkel. »Sag ihm, dass ich es mache.«
    »Gut.« Terry lachte und nahm auch noch Raymonds Glas mit.
    »Was soll das?«, fauchte sein Vater ihn an. »Wieso erzählst du dem, dass du in dem gottverdammten Schlachthof arbeiten willst?«
    »Dann komm ich dir wenigstens nicht mehr in die Quere«, antwortete Raymond, ohne seinen Vater anzusehen. »Und du kannst nicht mehr dauernd auf mir rumhacken.«
    »Du elender Schwachkopf! Du kannst dir doch nicht mal den Hintern wischen, ohne dass dir einer sagt, wie’s geht.«
    »Wir werden ja sehen.«
    »O ja, wir werden sehen. Das Einzige, was wir sehen werden, ist, dass du mit eingekniffenem Schwanz winselnd wieder zu Hause antanzt.«
    »So, da wären wir.« Raymonds Onkel knallte die Gläser auf den Tisch, dass es spritzte. »Trinken wir auf das neueste Mitglied der arbeitenden Bevölkerung.« Er kniff Raymond ins Ohr und zwinkerte ihm zu.
    Das Haus stand in einer Sackgasse östlich vom Lenton Boulevard, rechts ein Kindergarten, links ein Pub. Hochhäuser aus grauem Beton ragten dahinter aus Gras und Asphalt in die Höhe. Wie die meisten der Häuser hier war auch dieses billig gekauft und nur notdürftig renoviert worden, ehe man die Zimmer an Arbeiter oder Studenten vermietet hatte – Akademiker und Angehörige höherer Berufsstände residierten am Park und in den Vorstädten oder lebten zumindest in Apartments und nicht in möblierten Zimmern zur Untermiete.
    Raymonds Zimmer lag im ersten Stock nach hinten hinaus. Es war gerade groß genug für ein schmales Bett, einenkunststoffbeschichteten Kleiderschrank, eine Kommode mit drei Schubladen und einen Stuhl. Zum Einzug hatte der Vermieter ihm einen Tisch versprochen, den er aber nie bekommen hatte. Aber beim Abendessen hielt er ohnehin den Teller immer auf den Knien und die Augen auf den flimmernden Schwarz-Weiß-Fernseher gerichtet, und sein Frühstück aus Pulverkaffee und einem mickrigen Toast schlang er beim Anziehen hinunter. Wozu brauchte er also einen Tisch?
    Im gemeinschaftlich genutzten Wohnzimmer gruppierten sich zwei Sessel und ein Sofa, alle gleichermaßen durchgesessen und mit Brandflecken auf den Armlehnen, um den gemieteten Fernsehapparat und den Videorekorder mit den Filmen aus der Videothek – ›Casual Sex‹, ›Sunset Motel‹, ›American Fighter 4: Die Vernichtung‹. Schmutzige Henkelbecher und verkrustete Müslischalen, die im Spülbecken und auf dem Abtropfbrett keinen Platz mehr gefunden hatten, stapelten sich auf dem Küchenboden; in der Bratpfanne auf dem Herd stand das Fett beinahe fingerdick. Immer wieder einmal hängte einer aus der Gruppe wechselnder
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