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Der Kaufmann von Lippstadt

Der Kaufmann von Lippstadt

Titel: Der Kaufmann von Lippstadt
Autoren: Rita Maria Fust
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›Oma‹ gesagt, wie seine Geschwister. Seine Eltern nannten sie Mutter, manchmal sagte sein Vater Mami. Dann lachten alle. Aber Margarethe, das sagten nur die alten Tanten, Omas Schwestern. Nach und nach schaute Oliver alle Karten durch. Sie waren ausnahmslos chronologisch geordnet. Die meisten aus den 1950er und 60er Jahren. Schade, dass er nicht lesen konnte, was seine Oma selbst geschrieben hatte. Das wäre für ihn interessanter als die Urlaubsgrüße fremder Menschen. Er hätte viel über sie erfahren können, was sie gemacht und gedacht hatte. Oliver wurde bewusst, dass er die Zeit hatte verstreichen lassen, in der er seine Oma besser hätte kennenlernen können. Schade.
    Kontoauszüge, Versicherungsbriefe und Quittungen räumte Oliver unbesehen wieder ein. Ebenso die Ausschnitte aus alten Zeitungen. Sie waren schon ganz gelb und spröde. Einige hatten Stockflecke und rochen muffig.
    Zu guter Letzt nahm Oliver noch das Päckchen mit den Briefen. Ein fein gehäkeltes Band mit eingezogenem Seidenstreifen. Altrosa. Genau so sollten alle Großmütter der Welt ihre Briefe binden, dachte er und musste lächeln. Seine Oma wollte doch, dass er ihren Sekretär bekam. Also wollte sie auch, dass er ihre Briefe las. Was er nicht sehen sollte, hatte sie bestimmt aussortiert. Er öffnete die Schleife. Ein zarter Hauch Lavendel strich ihm um die Nase. Umschlag für Umschlag schaute er an und legte sie nach und nach zur Seite. Der unterste Brief war viel älter als die anderen. Viel, viel älter. Er konnte es am vergilbten Papier erkennen. Eine Adresse stand auf der Rückseite des Briefbogens:

    Frau
    Katharina So M sen
    Lübeck
    Oliver hatte den Namen der Frau noch nie gehört. Katharina. Vorsichtig faltete er den Briefbogen auseinander. An den Faltstellen war er leicht eingerissen, und die Ecken waren rund gestoßen. Der rote Wachsfleck zeigte, wie der Brief einst verschlossen war: mit einem Siegel. Einem Familiensiegel?

    Liebste Katharina,
    s
                        

    Nur einzelne Wörter konnte er lesen oder erraten, denn es war eine schwungvolle und ausladende Handschrift. Am wenigsten lesbar war die Unterschrift. Was wohl in dem Brief steht?, fragte sich Oliver. Seine Neugier war geweckt. Die letzte Zeile konnte er mit Mühe entziffern. L
        
st
    
dt, im Mai 1764 . Oliver tippte L*stadt bei Google ein und überflog kurz die ersten Einträge. Nein, das half nicht weiter. Er zog seinen Dierkes-Schulatlas aus dem Bücherregal und schaute im Inhaltsverzeichnis nach. Vorne ein L und hinten ein -stadt oder -stedt. Lahstedt, Lamstedt, Lebenstedt, Leibstadt, Lennestadt, Lippstadt, Loxstadt, Ludwigsstadt, Lunestadt. Eine dieser deutschen Städte musste es sein. Oliver vermutete Lippstadt, wegen der Doppel-p, die unter die Schreiblinie gingen. Lippstadt. Er schlug im Atlas die entsprechende Seite auf. D 2. Da lag Lippstadt. Eine kleine Stadt. Und direkt darüber stand Nordrhein-Westfalen.

    Oliver tippte ›lippstadt‹ bei Google ein und fand www.lippstadt.de . Ganz oben auf der Seite sah er das Ereignis des Jahres:

    Oliver klickte ein bisschen auf der Homepage der Stadt herum und sah, dass die Tageszeitung der Stadt Der Patriot anlässlich des Jubiläums ein Tagebuch-Projekt ins Leben gerufen hatte. Jeden Tag konnte ein Bürger einen Artikel zu einem Ereignis verfassen. Er erfuhr, dass es ab dem Sommer in Lippstadt eine Gesamtschule geben würde. Per Webcam schaute er sich das Rathaus und den Rathausplatz an. Dann klickte er ›Kultur‹ an. Ein langer Text erschien, Oliver las:
    Lippstadt – mit allen Sinnen erleben
    Heute ist Lippstadt die größte Stadt im Kreis Soest und ein dynamisches Mittelzentrum. Wandeln Sie auf den Spuren der Vergangenheit … 28
    Wandeln Sie auf den Spuren der Vergangenheit – Wandeln Sie auf den Spuren der Vergangenheit. Dieser Satz kreiste Oliver wieder und wieder durch den Kopf. Da kam ihm eine Idee. Er könnte nach Lippstadt reisen. Er könnte herausfinden, von wem der Brief stammte und wieso ihn seine Oma aufgehoben hatte. Er würde in Lippstadt recherchieren und so Licht in die Sache bringen. Vielleicht würde er sogar ein Geheimnis aufdecken können. Gleichzeitig würde ihm der Abstand zu Lübeck, zu seinem Studium und zu Imke Meierbrook guttun. Er könnte sein Leben neu ordnen.
    Die Idee, nach Lippstadt zu fahren, gefiel Oliver so gut, dass er kurzerhand den Brief einsteckte und sich auf den Weg ins Lübecker Stadtarchiv machte. Er musste
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