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Der Katalysator

Der Katalysator

Titel: Der Katalysator
Autoren: Charles L. Harness
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sie an den Nachmittag am C&O-Kanal. In ihrer Nase kribbelte es. Der Geruch war der gleiche wie der in dem verlassenen Schleusenhaus am Kanal: frisch, grün, würzig, aromatisch. Dort war der Duft von den Weidenblättern gekommen. Aber nein – dies war nicht der Kanal. Die Bäume waren die gleichen. Es waren Weiden. Aber der Ort war ein anderer – ein ganz anderer. Weitab zur Rechten ragte eine sonderbare, skelettartige Struktur empor. Eine Konstruktion aus Stahlträgern. Eine Brücke? Höchstwahrscheinlich. Und jetzt hatte sie den Rand des kleinen Hains erreicht und war stehengeblieben, als wolle sie lauschen. Es war Abend, und sie hörte das Gurgeln von fließendem Wasser. Anscheinend spannte sich die Brücke über einen kleinen Fluß oder einen Bach. Sie hörte das Quaken von Fröschen, und die Weidenblätter hinter ihr raschelten in einer leichten Brise. Irgendwo vor ihr erklang in melancholischer Wiederholung der Lockruf eines Vogels, eines Ziegenmelkers.
    Ein ferner Teil ihres Unterbewußtseins meldete sich zu Wort: Keine Klang- oder Geruchserlebnisse bei diesem Luminex. Nicht dazu programmiert. Sie schüttelte den Hinweis ab und ging weiter.
    Die gesamte Szene gehörte ihr, und sie konnte sich frei darin bewegen. Sie stieg die kleine Böschung zu den Bahngleisen hinauf, drehte sich um und schaute hinaus über die Brücke. Und dort, am anderen Ende, sah sie die Gestalt, die zu ihr her überschaute. Es war eine leuchtende Erscheinung, aber sie erkannte einen Körper mit Armen, Beinen und einem Kopf.
    Mary war nackt und kam aus dem Hochzeitsbett, aber sie wußte, daß ihre Nacktheit bedeutungslos war. Es war, als sei sie eine Nymphe, eine Najade in einer Hirtenszene zusammen mit einem griechischen Gott.
    Und jetzt konnte sie auch die Gesichtszüge erkennen. Das Gesicht hatte große Ähnlichkeit mit dem von Dr. Serane, aber es war nicht Serane. Das zurückgekämmte, in der Mitte gescheitelte Haar war das gleiche, die Augen und die Wangen waren die gleichen, und das Lächeln war das gleiche. Aber dieses Gesicht war jünger, schmaler, und die Augen darin brannten.
    Sie hatte es noch nie zuvor gesehen, aber sie erkannte es.
    Paul war inzwischen aufgewacht, und er sah alles kaum weniger verblüfft mit an. Aber Mary hatte ihn völlig vergessen. Für sie existierte nur die seltsame, verzauberte Welt der Brücke.
    Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Jetzt, ohne es zu wissen, stand die Priesterin vor der Brücke, und auf der anderen Seite wartete der Prophet. Sie wußte nicht einmal, daß sie die Priesterin war oder daß dies der letzte Akt von Song war und daß nun bald der Augenblick kommen würde, da sie ihre Bitte aussprechen müßte.
    Sollte er sie wecken? Aber das war ein alberner Gedanke. Sie war wach – genauso wach wie er selbst. Aber wußte sie, um was sie bitten sollte? Und was war hier überhaupt das Richtige? Gesundheit für sie? Für ihr Kind? Er wußte es auch nicht. Er fühlte sich absolut hilflos.
    In weiter Ferne glaubte er Musik zu hören, eine einfache, nostalgische Flötenmelodie. Er schaute Mary aus dem Augenwinkel an. Er wußte, daß sie es ebenfalls gehört hatte. Ihr Einsatz.
    Sie schaute über die Brücke zu diesem sonderbaren Gesicht und murmelte in singendem Tonfall: „Leb wohl … ruhe, träume … du mein geliebter Gott …“ Sie hatte die Abschiedsworte Brunhildes an den verschwindenden Wotan und Solvejgs an den sterbenden Peer Gynt miteinander kombiniert.
    Jesus! dachte Paul. Ihr Augenblick ist gekommen und gegangen, und sie hat um nichts gebeten!
    Jetzt tat der Besucher etwas Seltsames. Er kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich vor ihr. Und sie wußte, was dies bedeutete. Es war der respektvolle Gruß der Männer alter Kulturen an eine Frau, die ein Kind trug, die Andeutung einer Sitte aus den Kindheitstagen der Menschheit, als man mit Staunen und Ehrfurcht sah, wie eine Frau neues Leben erschuf.
    Sie hob den Arm in einer Abschiedsgeste.
    In diesem kurzen Augenblick schien ein Licht von der Gestalt auszugehen; es strömte über die Brücke hinweg zu ihr herüber und umspülte ihr Gesicht und ihren Körper. Dann erlosch es, und die Gestalt war verschwunden.
    Die Luminex-Schirme wurden dunkel, und alle Geräusche verstummten.
    Sie ließ den Arm sinken, aber eine Weile blieb sie noch so sitzen und starrte in den stillen Raum.
    Etwas berührte sie. Sie fuhr zusammen und entspannte sich gleich wieder. Es war Paul. Er hatte die Hand auf ihren nackten Rücken
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