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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste
Autoren: Siobhan Dowd
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kenn ich, das mit dem leeren Raum«, sagte Salim. »Mir geht es auch so. Da ist man ganz schön allein, was?«
    Ich hörte, wie er sich wieder hinlegte und durch die Zähne pfiff. »Mutterseelenallein«, murmelte er und schwieg.
    Ich dachte schon, er wäre eingeschlafen, doch nach einer Weile fuhr er fort: »In meiner Schule wurde man viel schlimmer beschimpft als mit Strinner. Da gab es nur Jungs, keine Mädchen, und es ging richtig hart zur Sache.«
    Â»Hart zur Sache?«
    Â»Ja. Prügeleien und Mutproben. Einer der Typen besaß ein Messer. Das mochte ich gar nicht. Aber später tat ich mich mit meinem Kumpel Marcus zusammen, und es wurde besser. Er und ich, wir waren die zwei Obermacker der 9k. Früher war Marcus immer nur der Paki-Kanake gewesen, so wie du der Strinner. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt ist er voll der Macker.«
    Â»Macker?«, sagte ich. »Was ist denn ein Macker?«
    Â»Ein lässiger und cooler Typ. Letztes Schuljahr haben wir bei diesem Theaterstück mitgespielt, Der Sturm. Und Marcus war der absolute Knaller. Er wird nie wieder der Kanake sein.«
    Â»Der Sturm?«, fragte ich. »Handelt das vom Wetter?«
    Â»Ja. Es ist von Shakespeare und beginnt mit einem superheftigen Sturm draußen auf dem Meer. Genau deine Baustelle.«
    Danach schlief er ein. Ich sank ins Kissen und lauschte auf seinen Atem, ein und aus. Und ich fragte mich, wieso Der Sturm genau meine Baustelle sein sollte, obwohl es in unserer Straße gar keine Baustellen gibt. Und dann wurde mir klar, dass »deine Baustelle« wohl wieder einer der komischen Ausdrücke war, die nicht genau das bedeuten, wonach es klingt. Meine Hirnströme begannen um die große Leere in meinem Kopf zu kreisen, wie die Moleküle in einer Cumulonimbuswolke, die kurz davor ist zu platzen. Ich dachte mir meinen eigenen Seewetterbericht aus. Malin Head und Hebriden, Nordwest 7 bis 9, schwere Sturmböen, vertiefend, nordostziehend, später aus wechselnden Richtungen …
    Eine kühle Brise wehte durchs Fenster herein. Salim stieß einen Seufzer aus, als würde er im Traum über irgendetwas nachgrübeln. Ich musste daran denken, was Tante Gloria über Andy Warhol gesagt hatte. Dass er eine Ikone der Moderne gewesen war und vielleicht dasselbe gehabt hatte wie ich. Und ich erinnerte mich, dass manche Leute behaupten, Einstein hätte es auch gehabt. Meine Hirnströme beruhigten sich wieder. Und dann schlief ich ein.

6
    Unterwegs zum Riesenrad
    Als ich aufwachte, war der Schlafsack auf der Luftmatratze auf dem Boden neben meinem Bett leer. Ich warf einen prüfenden Blick aus dem Fenster, um nach dem Wetter zu sehen. Die Sonne schien. Die antizyklonische Wetterlage der letzten Tage hielt an. Das Barometer würde schön und trocken anzeigen und die Isobaren würden weit auseinanderliegen, was genau meiner Vorhersage vom Vortag entsprach.
    Ich traf Salim mit Kat zusammen im Bad. Er hielt Dads Nassrasierer in der Hand und rasierte sich gerade lachend den Flaum von der Oberlippe.
    Â»Aber ich fand, das sah gut aus«, protestierte Kat.
    Salim drehte sich um und zwinkerte mir zu. »Je öfter du rasierst, desto mehr wächst nach. Wie beim Rasenmähen.«
    Als sie das hörte, lachte Kat sich scheckig. Wenn man sehr doll lacht, wird man nicht wirklich scheckig wie eine Kuh, deswegen weiß ich nicht, warum man »sich scheckig lachen« sagt, aber man tut es. Und die Logik von Haar oder Gras, das länger wächst, wenn man es abschneidet, leuchtete mir auch nichtein. Aber ich lachte mit, weil ich Salims Freund sein wollte. Dann strich ich mir mit dem Finger über meine Oberlippe. Da waren keine Haare und das war gut so. Die Vorstellung, dass mir Haare im Gesicht wuchsen, gefiel mir nicht besonders. Erstens ist Rasieren gefährlich. Dad kommt oft mit kleinen blutigen Klopapierfetzen, die ihm im Gesicht kleben, aus dem Bad. Und zweitens ist Gesichtsbehaarung ein Zeichen dafür, dass wir von den Affen abstammen. Und wenn man bedenkt, dass wir von den Affen abstammen, muss man zugeben, wie beschränkt die menschliche Intelligenz im Großen und Ganzen ist.
    Danach frühstückten wir. Ich aß dreiundvierzig Honigpops, Kat aß Toast und Salim begann eine Schale Cornflakes zu löffeln, aber er aß nicht alles auf. Dann verließen wir das Haus mit Mum und Tante Gloria, die hinter uns herliefen und redeten wie ein Wasserfall. Das ist
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