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Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Titel: Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
Autoren: Patricia Highsmith
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Reeves und Lanz stehen in einem komplexen Beziehungsgeflecht, das wesentlich von Zonen genau begrenzten Vertrauens und noch größeren Zonen des Geheimnisses bestimmt wird. Tom darf nicht genau wissen, welchen Aktivitäten sich seine Kompagnons in Hamburg und Berlin widmen. Umgekehrt gilt dasselbe. Und Frank Pierson darf natürlich noch viel weniger erfahren: nicht Reeves’ Identität, nicht die Zahl von Ripleys Morden, nicht die Quelle von Ripleys Einkommen oder die Qualität des Derwatt-Gemäldes in seinem, Franks, vornehmen Elternhaus. Hunderte Einzelheiten könnten eine Wahrheit ausplaudern, an der wie beim Käsefondue ein Schweif weiterer gefährlicher Wahrheiten hängt. »Irgendwie sind wir uns gleich, nicht wahr, Frank?« fragt Tom seinen jungen Freund, doch sein Hintergedanke verrät, daß dies nicht der Fall ist: Er kann Frank nichts von den Derwatt-Fälschungen erzählen. Auch die im Notizbuch auftauchende Idee, der Junge töte auf Ripleys Geheiß einen seiner Entführer (»Frank feuert die Pistole ab. Eine Taufe«, heißt es am 30. Juni 1977), wird nicht umgesetzt. Frank Pierson ist im emphatischen Sinne nicht wie Tom Ripley. Er ist ein Unschuldiger im Geiste, der sich weder beruhigen noch trösten läßt, bis seine Schuld gesühnt ist.
    Die ganze Ripley-Welt erscheint somit als mehrfachgeflicktes Boot, das man nur äußerst vorsichtig über das Wasser steuern darf, weil es bei der nächsten Komplikation sinken würde. Nehmen wir die Verkleidungen und das Karnevaleske beim Wort, dann läßt sich das Ambiente des Kostümballs auch so verstehen: Toms Gefährten simulieren große Aktionen, um ihm und seinem sechzehnjährigen Freund gefällig zu sein. Materiell geht es in diesem Roman, anders als in den drei Vorgängern, um gar nichts mehr. Gewiß, zwei Millionen Dollar werden ein wenig durch die Gegend gefahren, und eine Handvoll Männer rackert sich mit Paßfälschung, Chauffeursdiensten, Kostümverleih und der erforderlichen Logistik ab. Doch ihre Arbeit – nimmt man die zweitausend Dollar, die Reeves in Rechnung stellt, einmal aus – ist kostenlos.
     Erfinder literarischer Serienhelden müssen sich im Lauf der Zeit darüber klarwerden, wohin die Reise ihrer Figur gehen soll. Abgesehen von den unvermeidlichen Schwankungen, die schon allein das verstreichende Leben des Autors bewirkt, lassen sich grundsätzlich zwei Figurentypen unterscheiden: solche, die sich im wesentlichen gleichbleiben (von Seriendetektiven wie Sherlock Holmes oder Hercule Poirot bis zu vielen Kriminalermittlern unserer Tage); und Figuren, die sich wandeln. Innerhalb dieses Schemas gehört der Serienverbrecher Tom Ripley in die zweite Gruppe. Seine sich summierenden Morde, auf die Patricia Highsmith in Band zwei, drei, vier und fünf gelegentlich Bezug nimmt, um das Vorleben ihres Helden präsent zu halten, lassen sich nicht wie austauschbare Episoden auf eine Schnur reihen. Jeder Tote bedeutet eine Erfahrung, die den Mann Ripley verändert. Einmal gemachte Erfahrungen müssen nicht wiederholt oder bestätigt werden, um wirksam zu sein, und Patricia Highsmith erliegt nicht der Versuchung, ihren Helden künstlich auf einer überwundenen Stufe festzuhalten.
    Im Gegenteil. Die Figur spiegelt auf chiffrierte Weise Erfahrungen wider, die auch die Autorin macht, wobei sich Ästhetik und Moral kaum voneinander trennen lassen. Grundlegend ist das Gefühl der Befreiung von starren moralischen Kategorien, das Patricia Highsmith nach Beendigung des ersten Ripley-Romans empfindet und am 6. April 1955 im Notizbuch festhält. Sie hat die brave Dichotomie von Gut und Böse, an der nicht nur die amerikanische Kinoindustrie, sondern auch die Masse der Suspense-Autoren festhält, ein für allemal hinter sich gelassen. Der Jubel, den Ripley am Ende des Talentierten Mr. Ripley, nach geglücktem Versteckspiel und erfolgreicher Flucht, in die Welt hinausrufen will, ist also in mancherlei Beziehung Patricia Highsmiths eigener. Mit ihrem vierten Roman, veröffentlicht im Alter von vierunddreißig Jahren, hat sie sich freigeschrieben. Die Identifizierung mit Tom Ripley ist so stark, daß die Autorin auf der Verleihungsurkunde des »Edgar Allan Poe Award«, den ihr der Verband der Kriminalschriftsteller Amerikas im April 1956 zuspricht, handschriftlich den Namen ihrer berühmtesten Figur ergänzt: »[presented to] The Talented Mr. Ripley and [Patricia Highsmith]«.
    Doch wenn es wahr ist, daß Autoren von ihrer literarischen Schöpfung in die Höhe gezogen
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