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Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Titel: Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
Autoren: Patricia Highsmith
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hin, Tom zog ihn hoch, stützte ihn mit der einen Hand und griff mit der anderen nach der weißen Mütze, die ihm vom Kopf gefallen war. Der Junge schien keine zwanzig, er schwankte wie ein Mast im Sturm.
    »Wo sind deine Kumpel?« fragte Tom. »Da drin?«
    »Ich willn Taxi und ich willn Mädchen.« Der Junge grinste.
    Er wirkte gesund und kräftig; an seinem Zustand waren wahrscheinlich nur ein paar Scotch und ein Sechserpack Dosenbier schuld. »Los, komm.« Tom faßte ihn am Arm und stieß die Tür zur Bar auf. Er sah sich nach anderen Matrosen um: Zwei Seeleute in Uniform saßen an der Theke, doch der Barkeeper kam dahinter hervor und sagte zu Tom:
    »Wir wollen ihn hier nicht haben, er wird hier nicht bedient!«
    »Sind das seine Kameraden?« Tom zeigte auf die beiden Matrosen.
    »Wir wolln ihn nicht!« verkündete der eine, auch er nicht mehr nüchtern. »Er soll sich verpissen!«
    Toms Schützling lehnte am Türpfosten und wehrte sich gegen den Barmann, der ihn hinausschieben wollte.
    Tom ging zu den beiden Männern an der Theke – ob sie ihm für seine Mühen einen Kinnhaken verpassen würden, war ihm völlig egal – und sagte im härtesten New Yorker Akzent, den er aufbieten konnte: »Sorgt gefälligst für euern Kumpel! Eine beschissene Art ist das, einen von euch zu behandeln.« Tom sah den zweiten Seemann an, der nicht ganz so betrunken war: Seine Worte waren durchgedrungen, der Mann stieß sich von der Theke ab. Tom ging zur Tür und blickte zurück.
    Zögernd näherte sich der nüchternere Seemann seinem betrunkenen Kameraden.
    Na also, wenigstens etwas, wenn auch nicht viel, dachte Tom auf dem Weg hinaus. Er ging zum Chelsea zurück. Auch dort, in der Hotelhalle, waren die Leute nicht mehr nüchtern, es ging feuchtfröhlich zu, doch gemäßigt, verglichen mit dem Times Square. Das Chelsea war für seine seltsamen Gäste bekannt, achtete aber gewöhnlich auf die Einhaltung gewisser Grenzen.
    Tom überlegte, Héloïse anzurufen – drüben dürfte es etwa neun Uhr morgens sein –, und ließ es doch bleiben. Er merkte, wie völlig fertig er war, erledigt, am Ende. Und wie hatte er es geschafft, sich in jener Bar keine Schläge von den Seeleuten einzufangen? Tom ging auf, daß er wieder einmal Glück gehabt hatte. Er fiel ins Bett; wann er aufwachen würde, war ihm egal.
    Sollte er morgen Lily anrufen? Oder würde sie das nur verstören und durcheinanderbringen? Kümmerte sie sich gerade um solche Sachen wie die Auswahl eines angemessenen Sarges? Würde Johnny mit einem Mal erwachsen werden und die Dinge in die Hand nehmen? Oder könnte Tal das tun? Würden sie Teresa benachrichtigen, würde sie zur Beerdigung kommen, zur Einäscherung, was auch immer? Während Tom sich hin und her wälzte, fragte er sich, ob er heute nacht über all das nachdenken müsse.
    Erst gegen neun am nächsten Abend hatte er sich einigermaßen gefangen und war wieder er selbst. Als die Triebwerke der Maschine aufheulten, war es, als erwache er mit einem Mal, als sei er schon zu Hause. Er war glücklich, oder doch glücklicher, und er war entkommen – nur was? Einen weiteren Koffer hatte er gekauft, diesmal bei Mark Cross, weil Gucci so ultrasnobistisch geworden war, daß Tom die Marke lieber boykottierte. Der neue Koffer steckte voller Mitbringsel: ein Pullover für Héloïse, ein Kunstbuch von Doubleday, eine blauweiß gestreifte Schürze für Madame Annette mit einer roten Tasche und der Aufschrift BIN ZUM ESSEN sowie eine kleine goldene Anstecknadel in Form einer fliegenden Gans über kleinen, spitzen, goldenen Schilfhalmen, ebenfalls für Madame, die bald Geburtstag hatte, und schließlich ein elegantes Paßetui für Eric Lanz. Peter aus Berlin hatte Tom nicht vergessen, er würde in Paris etwas Besonderes für ihn suchen. Er sah, wie sich Manhattans Märchenhafte Lichterstadt mit dem Steigen und Fallen der Maschine sanft hob und senkte, und dachte an Frank, den sie bald in diesem Land beerdigen würden. Als die amerikanische Küste außer Sicht war, schloß Tom die Augen und versuchte zu schlafen. Aber er mußte immerzu an den Jungen denken; daß er tot war, konnte er kaum glauben. Sein Tod war eine Tatsache, und doch empfand er sie noch nicht als wirklich. Er hatte gehofft, der Schlaf würde helfen, doch als er morgens erwachte, hatte der Tod des Jungen immer noch etwas Phantastisches – so als könne er Frank jetzt sehen, jenseits des Mittelgangs der Maschine, wie er ihm überraschend zulächelte. Tom mußte sich das
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