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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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vorsichtig kam sie dann zu ihrer Mutter an den Tisch und beugte sich über die Ohnmächtige. Lange sah Lida sie an, tauchte dann ihren Zeigefinger in das Blut auf den Brüsten und zwischen den Beinen und rannte durch die Hintertür hinaus in den Stall, wo sie sich unter einem Haufen Reisstroh versteckte.
    Tifei, den Sohn, hatte man unterdessen an einen Baum gebunden. Um ihn herum standen sechs Rotgardisten und beratschlagten laut, was man nun mit ihm tun sollte. Ihn einfach umbringen war zu simpel, man wollte schon etwas Spaß dabei haben.
    Huang Keli, den Kopf und die Schultern schwarz von Tinte, kniete vor dem Schulhaus auf dem Boden und hörte das Schreien seiner Frau Jinvan im Haus, sah seinen Sohn Tifei zwischen den Fäusten der Rotgardisten und blickte dann zu Chang empor, der breitbeinig vor ihm stand. »Warum tut ihr das?« fragte er.
    Chang wunderte sich über den ruhigen Ton in seiner Stimme.
    »Ich bin der Lehrer. Wenn ich Unrecht getan habe, dann bestraft mich.«
    »Es ist deine Brut!« Chang blickte auf den tintenschwarzen Kopf. »Du magst ein guter Lehrer sein«, sagte er, »aber du hast die falschen Lehren verbreitet. Überall verändert sich unser Land, beginnt eine neue Zeit, wird die kapitalistische Fäulnis ausgerottet, heißt die Parole: ›Junges Denken für eine rote Zukunft!‹. Der Große Vorsitzende hat den Weg dahin gewiesen. Er sagt: ›Die vier alten Übel müssen zerschlagen werden – altes Gedankengut, alte Sitten, alte Kulturen und alte Gewohnheiten!‹ Wir schaffen eine neue Welt als Muster für alle anderen Völker der Erde. Wie kannst du noch leben, ohne an diesem großen Werk mitzuhelfen?«
    Huang senkte den Kopf. »Machen Sie es kurz, Genosse Kommissar, aber lassen Sie meine Familie leben.«
    »Bei mir stirbt keiner, ohne die neue Zeit begriffen zu haben.« Chang hob seinen Fuß und stieß ihn Huang in die Seite.
    Huang kippte um und lag im Staub des Platzes; er fuhr sich mit der Zunge über seine aufgeplatzten Lippen und schmeckte die bittere Tinte.
    »In der Schule gibt es heute eine einzige Parole, und sie ist das Fundament unserer Zukunft. Sprich mir nach, Huang: ›Liebe dein Vaterland, das Volk und die Partei‹«, fuhr Chang fort.
    Huang sprach es nach, richtete sich dann auf den Knien auf und blickte zu Chang empor. »Ich habe nichts anderes gelehrt. Nur die Partei ist hinzugekommen.«
    »Es wird noch mehr dazukommen«, sagte Chang höhnisch. »Sprich mir weiter nach. Der Große Vorsitzende sagte: ›Das wichtigste Studienfach für unsere Jugend ist der Klassenkampf.‹«
    Huang wiederholte es und wischte sich mit beiden Händen über die Augen. Die Tinte hatte ihm die Lider verklebt; es war schwer, die Augen offenzuhalten.
    »Und weiter …« Chang genoß es, einem Lehrer etwas beizubringen. Er, der ehemalige Schmied, haßte von Kind an die Lehrer, seit er als schlechter und fauler Schüler vor seinen Klassenkameraden gedemütigt worden war. »Es geht weiter, Huang: ›Dem Volk dienen! Ein Leben für die Partei, für die Revolution! Unter dem Himmel dient alles der Gemeinschaft!‹« Er gab Huang wieder einen Tritt in die Rippen. »Begreifst du das?«
    »Ich habe nie anders gelebt, Genosse Kommissar. Nur mit anderen Worten.«
    Von dem Baum, an dem man ihn festgebunden hatte, schallte Tifeis Schreien. Zwei Rotgardisten stießen mit Bajonetten in seinen nackten Körper, aber nicht so tief, daß er getötet wurde; nur die Spitzen drangen ins Fleisch, schlitzten kleine Wunden auf, aus denen das Blut bald den ganzen Körper überschwemmte. Die ›kleinen Generäle Maos‹ nannten es scherzhaft ›kitzeln‹, und je lauter man dabei schrie, um so eifriger wurden sie.
    Chang hatte seine Pistole aus dem Gürtel geholt und stieß den Lauf in Huangs Genick.
    Huang schloß die Augen. Stirb als ein aufrechter Mann. Bitte nicht um dein Leben. Millionen Tote hatte die Kulturrevolution verschlungen, seit Mao Zedong zum Klassenkampf aufgerufen hatte. Das war nur zehn Jahre her, jetzt war das Jahr 1976, das Jahr des Drachens, und alle im Land dachten: Wir haben überlebt. Es ist vorbei. Wir sind die neuen Menschen. So kann man sich irren.
    Huang preßte die Hände flach gegen seine Brust und wartete auf den Schuß. Es wird nicht schmerzen, dachte er. Man wird nur einen kräftigen Schlag spüren, wie wenn ein Hammer das Genick trifft, und dann wird sich die Seele vom Körper lösen und frei sein von aller Qual, niemand wird sie mehr foltern können. Beneidet die Toten, hat der Dichter Li
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